Die politische Identität der Schweiz ist – im Guten wie im Mythos – zutiefst geprägt von drei Grundprinzipien: der direkten Demokratie, dem Föderalismus und dem Milizgedanken. Das dritte und letzte Element dieses Dreiklangs ist bisher das am wenigsten untersuchte, da unspektakulär. Der systematische Einsatz von Bürgern in der Armee und den politischen Organen, für den das Milizsystem steht, ist jedoch einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren in der Geschichte der Schweiz. Die Vorteile des Milizsystems «nach Schweizer Art» sind zahlreich: Als Instrument zur Förderung und Stärkung des sozialen Zusammenhalts und der Integration hält es die Nähe zwischen Bevölkerung und Regierung aufrecht. Dennoch ist die Beteiligung der Bürger am Milizsystem im Rückgang, besonders in den Gemeinden, die Mühe haben, lokale Posten zu besetzen. Avenir Suisse hat diesem Thema anfangs Jahr ein Buch gewidmet («Bürgerstaat und Staatsbürger»), dessen französische Ausgabe nun unter dem Titel: «Etat citoyen et citoyens dans l’Etat» erschienen ist (Editions Slatkine, September 2015). Einer der Hauptvorschläge des Buches sieht die Umwandlung der derzeitigen Wehrpflicht (also des ausschliesslich Männern vorbehaltenen Militärdienstes) in einen allgemeinen Bürgerdienst vor.

Ein Drittel Wahrheit, zwei Drittel Fiktion

Natürlich ist der Milizgedanke tief in Armee und Militärdienst verwurzelt. Die Wehrpflicht und das Bild des Bürger-Soldaten sind bis heute starke und beliebte Symbole. Beweis dafür liefert die Volksinitiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht», die in der Abstimmung vom September 2013 sowohl vom Volk (73,2%) als auch den Kantonen massiv abgelehnt worden ist. Der Mythos der Milizarmee ist lebendig, seine Realität enttäuschend: Weniger als ein Drittel junger Menschen im wehrfähigen Alter leistet tatsächlich Militärdienst. Unabhängig davon, was man vom Beitrag einer Milizarmee zur nationalen Sicherheitspolitik (Gibt es eigentlich eine Schweizer Sicherheitsstrategie? Ist die bekannt?) oder den permanenten Budgetkürzungen bei der Armee hält: Dieser fallende Prozentsatz gibt zu denken. Wie auch das Welschlandjahr junger Au-pair-Mädchen aus der Deutschschweiz ist der rituelle Übergang zum Militärdienst Anlass zur – oberflächlichen, aber auf menschlicher Ebene reichen – Entdeckung der anderen Regionen des Heimatlandes. Der Kontakt mit den anderen, die vielen Plaudereien, Ausflüge und endlos wiederholten Geschichten aus der Dienstzeit stärken den sozialen Zusammenhalt und den Bürgergeist, der dank der verringerten Vorbehalte den «anderen» gegenüber erst möglich wird.

Zivildienst als wachsende Konkurrenz

Der Militärdienst ist aber nicht nur rein zahlenmässig im Rückgang, sondern wird auch zunehmend vom Zivildienst verdrängt. Immer mehr junge Menschen entscheiden sich zugunsten des Zivildienstes (und das, obwohl dieser anderthalbmal so lange dauert wie der Militärdienst). Aufgrund dieser Entwicklung mussten allein im vergangenen Jahr 1,5 Millionen Zivildiensttage organisiert werden. Die Zivildienstleistenden sind grundsätzlich einverstanden damit, sich in die Gesellschaft einzubringen. Sie lehnen also eine Dienstpflicht nicht prinzipiell ab, sondern wenden sich eher gegen den Militärdienst, der in ihren Augen nicht zu ihrer Ausbildung beiträgt, und weniger interessant scheint. Um der wachsenden «Nachfrage» in Sachen Zivildienst nachzukommen, müssen laufend die Tätigkeitsfelder erweitert werden, und dabei privaten Unternehmen das Wasser abzugraben. Der Parlamentsentscheid vom 14. September 2015, wonach Zivildienstleistende nun auch in Schulen eingesetzt werden können, ist ein weiterer Schritt in der Ausweitung dieser Alternative zum Wehrdienst.

Der von Avenir Suisse vorgeschlagene allgemeine Bürgerdienst…

In seiner Publikation zum Milizsystem regt Avenir Suisse die Bildung eines allgemeinen Bürgerdienstes an, in dem – ohne näher auf die genaue Funktionsweise einzugehen –  sowohl militärische, als auch zivile und soziale Tätigkeiten zusammengefasst sind, und der nicht nur für junge Männer mit Schweizer Nationalität verpflichtend gelten würde, sondern auch für Frauen und für seit Längerem in der Schweiz ansässigen Ausländer. Diese Erweiterung der allgemeinen Dienstpflicht ist als Massnahme in letzter Instanz zu verstehen, die nur dann zur Anwendung kommen sollte, wenn vereinzelte Korrekturmassnahmen (bessere Bezahlung für Milizionäre, bessere Zeiteinteilung, soziale Aufwertung sowie Anerkennung des Ausbildungswertes) nicht ausreichend zur Wiederbelebung des Milizsystems beitragen. Jedoch zwingt die stetig sinkende Bereitschaft für freiwilliges Engagement den Gedanken auf, dass früher oder später eine radikale und bahnbrechende Entscheidung zugunsten des sozialen Zusammenhalts nötig wird, in welcher Form auch immer.

…findet immer mehr Anhänger

Immerhin: Der Vorschlag, den Militärdienst durch einen obligatorischen Bürgerdienst zu ersetzen,  findet 70% Zustimmung unter jungen «Leadern», und 58% unter den Jungen allgemein.

Diese Entwicklung findet eine weitere Bestätigung in der Bildung zahlreicher Gruppen, die über die Parteigrenzen hinweg für einen Bürgerdienst eintreten. So hat der in Genf geründete gemeinnützige Freiwilligenverein Service citoyen am 1. August (und nicht zufällig am Nationalfeiertag) ein anregendes zweisprachiges «Manifest für einen Bürgerdienst» veröffentlicht.

Der lange Weg zum allgemeinen Bürgerdienst hat begonnen.