Macht aus dem Staat Gurkensalat!, forderten in den 1980er Jahren linksalternative Jugendliche in der Schweiz und in Deutschland. Damit forderten sie die staatlichen Institutionen heraus, die sie als einengend empfanden. Später rief die politische Linke jedoch nach mehr Staat, um den «ungezügelten Neoliberalismus» zurückzudrängen. Es wurde (und wird) befürchtet, dass der Staat kaputtgespart und ausgehöhlt werde. Jenseits der wechselnden Rhetorik zeigen die Daten, dass aus dem Staat kein Gurkensalat wurde, im Gegenteil: Der Einfluss des Staats hat sich gemessen an diversen Indikatoren stetig ausgeweitet.
Die Fiskalquote steigt
Die schweizerische Fiskalquote, also die Summe aller Steuern und Sozialversicherungsabgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP), ist seit 1965 um 12 Prozentpunkte auf 28 Prozent gestiegen (vgl. Abbildung 1). Die Staatsquote – Staatsausgaben im Verhältnis zum BIP – sogar um gut 15 Prozentpunkte. Der Zuwachs ist von zwei längeren Phasen des Anstiegs geprägt: 1960 bis 1976 und 1990 bis 2002. Diese beiden Phasen korrelieren über erhebliche Strecken mit Wirtschaftskrisen, die die Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchstehen musste. Ab 2003 – zeitlich zusammenfallend mit der Einführung der Schuldenbremse auf Bundesebene – sank die Fiskalquote leicht, um in den letzten zehn Jahren wieder anzusteigen. Im internationalen Vergleich schneidet die Schweiz immer noch gut ab.
Allerdings gibt diese Fiskalquote nicht die volle Abgabenlast wieder, da sie nicht alle Zwangsabgaben einbezieht: Krankenversicherer und Pensionskassen tauchen in der Schweiz als private Unternehmen nicht in der offiziellen Statistik auf. Doch alle Bewohner der Schweiz sind verpflichtet, in diese Kassen einzubezahlen. Versteht man die Fiskalquote als Quote aller Zwangsabgaben, muss man sie für internationale Vergleiche um solche Zwangsabgaben an private Institutionen ergänzen. Neben der Schweiz sind in keinem der in Abbildung 1 dargestellten Länder nennenswerte Zwangsabgaben an private Institutionen vorgesehen, die Korrektur betrifft deshalb fast nur die Schweiz: Mit einer erweiterten Fiskalquote von 40% findet sie sich damit etwa auf dem Niveau ihrer Nachbarn Deutschland und Österreich wieder.
Soziale Sicherheit gewinnt, Landesverteidigung verliert
Auf der Ausgabenseite spiegeln sich vor allem die Einführung und der Ausbau der Sozialwerke in den Zahlen (vgl. Abbildung 2). 1950 machte die soziale Sicherheit rund 16 Prozent der gesamten Staatsausgaben aus. Bis 1990 verdoppelte sich der Anteil fast, 2021 waren es schliesslich 40 Prozent – zählt man Gesundheit sowie Bildung und Erziehung als weitere soziale Ausgaben dazu, sind es sogar 63 Prozent. Die zusätzlichen Prozentpunkte gingen zulasten der allgemeinen Staatsausgaben, deren Anteil sich halbiert hat, und der Landesverteidigung, die trotz einem Anstieg von 2,8 auf 5,8 Milliarden Schweizer Franken nur noch gut 2 Prozent der Gesamtausgaben ausmacht (gegenüber 15% im Jahr 1950).
Mittelfristig zeichnen sich vor allem für den Bundeshaushalt einige Wachstumstreiber ab. Zum einen stellt sich die Frage, inwieweit die enormen Summen, die im Rahmen der Covid-19-Pandemie aufgeworfen wurden, zu einem politischen und gesellschaftlichen Mentalitätswandel geführt haben. Die Erfahrung, dass der Staat relativ schmerzfrei 30 Milliarden Schweizer Franken ausgegeben hat und weitherum als «Lender of Last Resort» für Unternehmen in der Not aufgetreten ist, könnte zu einer neuen Anspruchshaltung bezüglich Staatsausgaben und -interventionen führen, die den staatlichen Fussabdruck schleichend erhöht. Dazu tragen auch neue Ansprüche wie die Erhöhung der Armeeausgaben, der AHV-Ausbau, Forderungen nach mehr Prämienverbilligungen oder eine stärkere Subventionierung von Kinderkrippen bei.
Auch langfristig dürften Staats- und Fiskalquoten weiter steigen. Mit dem demografischen Wandel werden die Kosten für die Altersvorsorge ohne umfassende Reform weiter massiv zunehmen. Ebenso werden die Gesundheitskosten – vor allem aufgrund neuer technologischer, individualisierter Behandlungsmöglichkeiten – steigen und nach staatlicher Unterstützung verlangen.
Mehr Beschäftigte in der Verwaltung
Das Wachstum des Staats spiegelt sich auch in einem Wachstum der öffentlichen Beschäftigung. 395’000 Vollzeitäquivalente (VZÄ) entfielen gemäss der Statistik der Unternehmensstruktur 2019 auf Staatsangestellte. Weitere 225’000 VZÄ umfasste das Personal öffentlicher Unternehmen. Als staatsnahe Beschäftigung kann man Angestellte von an sich privaten Unternehmen zählen, die aber unter staatlicher (Teil-)Kontrolle stehen oder deren Erträge aus staatlichen Quellen stammen. Zu Ersteren gehören beispielsweise die Energieversorger, zu Letzteren die Landwirte. Konkret stammen 47 Prozent der landwirtschaftlichen Einkünfte aus staatlichen Zuschüssen, entsprechend können 47 Prozent dieser Arbeitsplätze als staatsnah taxiert werden. Diese staatsnahe Beschäftigung belief sich 2019 auf 330’000 VZÄ. Damit kommt der öffentliche Sektor 2019 total auf 950’000 VZÄ oder 23 Prozent aller Beschäftigten in der Schweiz.
Gegenüber 2011 hat diese öffentliche Beschäftigung mit 13 Prozent eine stärkere Zunahme verzeichnet als die Beschäftigung in der Privatwirtschaft (8%). Dem Beschäftigungswachstum auf Bundesebene von knapp 5 Prozent steht ein Anstieg bei den Kantonen von 9 Prozent und den Gemeinden von 14 Prozent gegenüber. Wird allerdings die Beschäftigung im staatlichen Bildungssektor berücksichtigt, schliesst der Bund beim Beschäftigungswachstum zu den Kantonen auf, weil der Stellenbestand bei den beiden Hochschulen des Bundes überdurchschnittlich gestiegen ist.
Umfangreichere Regulierung
Auch wenn für die Regulierungsdichte kein einzelnes gut interpretierbares Mass existiert, weisen auch die vorhandenen Indizien darauf hin, dass der Einfluss des schweizerischen Staats gewachsen ist. Die Anzahl und der Umfang von Erlassen haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen: Waren im Jahr 2000 noch 46’000 Seiten Landesrecht und Staatsvertragsrecht in Kraft, waren es 20 Jahre später schon 75’000. Gemäss dem Bürokratiemonitor des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) nimmt eine deutliche Mehrheit der befragten Unternehmen einen Anstieg der administrativen Belastung zwischen 2018 und 2022 wahr. Bei Ländervergleichen zur Regulierungsdichte ist die Schweiz in den letzten 20 Jahren zurückgefallen. Beim OECD-Index für Produktmarktregulierung landet sie bloss auf Rang 27 von 38 Ländern – das heisst, dass sie im internationalen Vergleich eine hohe Regulierungsdichte aufweist.
Zudem ist hierzulande über die Hälfte der Preise nicht mehr das Resultat von Angebot und Nachfrage, sondern massgeblich vom Staat mitgestaltet oder sogar direkt kontrolliert: Gemäss dem europäischen Statistikamt Eurostat sind in der Schweiz 28,5 Prozent der Preise staatlich administriert. Dominiert wird diese Zahl vom Gesundheitssektor, aber zum Beispiel auch Altersheime, Elektrizität und der öffentliche Verkehr fallen darunter. Der Staat beeinflusst weitere Preise, die nicht unter die Eurostat-Klassifizierung fallen: Die Preise von Treibstoffen, Brennstoffen und Tabak werden massgeblich von den Steuern darauf bestimmt. Der schweizerische Agrarprotektionismus mit Importzöllen hat einen direkten Einfluss auf die Lebensmittelpreise. Und zuletzt – als ziemlich grosser Posten – sind die Bestandesmieten staatlich reguliert, also den freien Marktkräften entzogen.
Nicht mehr schlank, aber wenigstens dezentral
Wie die vorliegende Übersicht zeigt, ist der staatliche Einflussbereich auch in der Schweiz mittlerweile gross und wächst zudem stetig. In vielerlei Hinsicht ist die Schweiz damit international kein Sonderfall mehr. Zunehmend wird der Staat nicht nur von links, sondern auch von rechts als Gehilfe gesehen, Partikularinteressen zu erfüllen. Wenn sich private Akteure, Unternehmen und Interessengruppen zunehmend auf den Staat verlassen, um sich Einkommen oder vorteilhafte Rahmenbedingungen zu sichern, statt ihren Fokus auf die Erzielung echter Wertschöpfung zu setzen, gefährdet das langfristig die Grundlage unseres Wohlstands. Gerade im bürgerlichen Milieu wäre eine stärkere Prinzipientreue angemessen: Wer eine liberale Grundordnung als essenziell für eine prosperierende Zukunft betrachtet, sollte auch an diesen Werten festhalten, wenn sie einmal nicht unmittelbar dem Wohlergehen seinesgleichen dienen.
Worin sich die Schweiz hingegen weiterhin vom Ausland unterscheidet, sind der ausgeprägte Föderalismus und die direktdemokratische Mitwirkung. Der Staat mag in der Schweiz zwar nicht (mehr) unbedingt kleiner als in anderen Ländern sein, aber er ist immerhin deutlich näher an den Bürgerinnen. Das führt dazu, dass Leistungen zielgerichteter erbracht werden, es erhöht das Verantwortungsgefühl im Umgang mit öffentlichen Geldern, und es stützt im Gegenzug das Vertrauen der Einwohner in die Politik.
Dieser Text ist in «Die Volkswirtschaft» vom 6. Juni 2024 erschienen. Weiterführende Informationen zum Thema finden sich in der Avenir-Suisse-Publikation «Vermessenes Staatswachstum».