Die Schweiz gilt gemeinhin als Insel der Glückseligen. Derzeit haben andere Inseln allerdings mehr Anspruch auf diese Auszeichnung. Egal ob die Seychellen, Färöer oder Malta, auf all diesen Inseln wurde bis Anfang März ein grösserer Teil der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft als in der Schweiz.[1] Während an diesen Orten bald wieder die Normalität zurückkehren sollte, warten hierzulande sogar noch Personen aus den Risikogruppen auf ihren ersten Impftermin.

Natürlich, manch einer mag einwenden, dass dieser Vergleich unfair sei. Kleine Inseln seien nicht repräsentativ sowie die Unterschiede bei den Wirkstoffen nicht berücksichtigt – und überhaupt, die Nachbarländer stünden ja noch schlechter beim Impfen da. Das stimmt. Doch neben den erwähnten Inseln haben bis Anfang März diverse entwickelte Volkswirtschaften mit wirksamen Vakzinen schneller als die Schweiz geimpft. Neben den häufig erwähnten Ländern Israel, Grossbritannien und den USA beispielsweise auch Dänemark.

Warum steht die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt mit ihrem Impfprogramm nicht an der Spitze?

Der verpatzte Start des Schweizer Impfprogramms hat das Potenzial, zum teuersten Staatsversagen in der Geschichte des Landes zu werden. (Markus Spiske, Unsplash)

Im Detail kann diese Frage noch nicht beantwortet werden – zu viel liegt derzeit im Dunkeln, zu oft wird beim laufenden Impfprogramm auf die Vertraulichkeit der Verhandlungen verwiesen. Wer sich aber auf die Spurensuche macht, erkennt drei Bereiche, in denen es offenbar hierzulande hapert: der Professionalität in Teilen der Verwaltung, dem Vorleben des Milizgedankens in Krisenzeiten sowie der Anspruchshaltung, zu den Besten gehören zu wollen.

Pleiten, Pech und Pannen

Dass beim Eintreten einer Krisensituation nicht alles wie vorgesehen abläuft, gehört zur Natur der Sache. Während der Covid-19-Pandemie sind jedoch wiederholt grobe Patzer ans Licht getreten, die man bis vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte. Gleich zu Beginn der Krise staunte das Land mit der wohl höchsten zivilen Bunkerdichte über leere Pflichtlager. Nach den fehlenden Schutzmasken kamen fast im Wochentakt weitere Unzulänglichkeiten ans Licht. Medien berichteten beispielsweise darüber, dass das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die via Fax übermittelten Fallberichte auf die Waage legte, um die Zahl der Infektionen zu eruieren. Und immer wieder mussten Statistiken zurückgerufen und korrigiert werden.

Diese Pannenserie zog sich auch in das Schweizer Impfprogramm hinein. Erneut wurde schmerzlich klar: Die Digitalisierung ist bei gewissen Behörden mehr Schlagwort denn Praxis. So plante das BAG offenbar, dass die Kantone die Impfungen via Papierformular bestellen. Auch beim Impfprogramm wurden wieder falsche Daten veröffentlicht und Statistiken inkorrekt erhoben. Noch schlimmer wiegt das Versagen des Bundes, eine Softwarelösung zur Vergabe von Impfterminen zu erstellen.

Während diese digitale Unbeholfenheit mittlerweile zum Grundrauschen der Covid-19-Krise in der Schweiz gehört, zeigten sich gerade bei der Impfstoffbeschaffung auch analoge Schwierigkeiten. Wegen der Vertraulichkeit dieser Verhandlungen ist hier vieles noch unklar. Dem Vernehmen nach soll die Schweiz allerdings bei den Verhandlungen mit Impfstoffherstellern nicht immer die beste Figur abgegeben haben; Für Probleme hinter den Kulissen könnte der späte Abschluss eines finalen Vertrags mit Pfizer-Biontech im Dezember sprechen, nur zwei Wochen vor der Zulassung durch Swissmedic. Gerade der Einbezug von verwaltungsexternen Experten dürfte Schlimmeres verhindert haben – was zum zweiten Bereich mit Verbesserungspotenzial führt.

Privatwirtschaftlicher Kompetenz zu mehr Geltung verhelfen

Grossbritannien gilt derzeit als Musterbeispiel für eine erfolgreiche Covid-19-Impfstrategie. Der Erfolg fusst auf verschiedenen Pfeilern. Einer davon dürfte die hochkarätig besetzte Impf-Taskforce sein. Diese wurde von der Topmanagerin Kate Bingham geleitet, die auf eine eindrückliche Karriere in der Pharma- sowie der Risikokapitalbranche zurückblicken kann.

Auch wenn sich gewisse Medien kritisch zu Bingham äusserten, gibt ihr der Erfolg des britischen Impfprogramms bisher durchs Band recht. Die Managerin betonte dabei immer die Bedeutung einer engen Verzahnung mit der Privatwirtschaft. So erklärte sie im britischen Parlament: «Alle westliche Unternehmen, die wir ausgewertet haben, waren Unternehmen, zu denen wir schon bestehende Beziehungen hatten, in der einen oder anderen Form, zumindest über ein Mitglied unseres Teams.»

Auch in der Schweiz mit einer starken Pharma- und Biotechbranche wäre ein starker Einbezug von privatwirtschaftlichem Knowhow möglich. Zwar war mit dem ehemaligen Leiter der Novartis-Impfstoffsparte mindestens ein renommierter Experte aus der Wirtschaft mit in der Arbeitsgruppe, aber laut Medienberichten hat sich dieser von sich aus bei der Behörde gemeldet.

Auf solche staatsbürgerliche Initiative sollte man sich künftig nicht verlassen müssen. Vielmehr sollte der auf tieferen Staatsebenen erfolgreich gelebte Milizgedanke auf Bundesebene gestärkt werden. Gerade im Krisenfall gilt es, das Wissen der global vernetzten Schweizer Wirtschaft anzuzapfen und sich nicht zu scheuen, deren Vertretern auch Verantwortung zu übertragen; das Beispiel Grossbritannien zeigt, wie wertvoll ein solches Vorgehen sein kann.

Eine zu ambitionslose Anspruchshaltung

Schliesslich deuten die Ereignisse rund um die Schweizer Covid-19-Krisenbewältigung auf eine schleichende Verschiebung in der Schweizer Mentalität hin. Das ist wohl die bedenklichste Entwicklung, welche die laufende Pandemie offengelegt hat. Über Jahrzehnte war das Land stolz darauf, weltweit zu den Besten zu gehören. Oft wurde vom Ausland mit einer gewissen Bewunderung auf das «System Schweiz» geschaut.

Die hohe Qualität von Infrastrukturen, Dienstleistungen und Produkten kommt aber nicht von ungefähr. Vielmehr steht dahinter das Hochhalten einer ehrgeizigen Anspruchshaltung, die wiederum in einer Innovationsoffenheit sowie einer Kritikfähigkeit gründet – alles Qualitäten, die anscheinend Teilen der Gesellschaft abhanden gekommen sind. Exemplarisch zeigen das Wortmeldungen von Spitzenbeamten und -politikern sowie die fehlenden Reaktionen darauf.

So erklärte die BAG-Direktorin trotz all der oben erwähnten Pannen und Unzulänglichkeiten in den Medien: «Unsere Pandemiebekämpfung hat nicht so schlecht funktioniert». Der Aufschrei auf dieses verzerrte Selbstbild blieb aus. Das ist ein Problem, denn ohne eine Aufarbeitung von Fehlern wird die Schweiz auch in der nächsten Krise nicht brillieren.

Wird eine solche Kultur der Genügsamkeit akzeptiert oder macht gar Schule, ist der Abstieg der Schweiz ins globale Mittelmass nur eine Frage der Zeit. Umso bedenklicher ist, dass Politiker nicht vehement Gegensteuer geben – im Gegenteil. Der Anspruch, zur Weltspitze gehören zu wollen, scheint auf höchster Ebene nicht mehr vollumfänglich geteilt zu werden.

Während die eingangs erwähnten Länder einen fulminanten Impfstart hinlegten, erklärte Bundesrat Alain Berset in einem Interview Ende Januar: «[…] für den Erfolg der Aktion ist ohnehin nicht entscheidend, ob wir die ersten zehn Prozent der Bürger Ende Januar oder Ende Februar geimpft haben.» Diese beschönigende Haltung lässt auf mangelnden Ehrgeiz und Selbstkritik schliessen, und die Aussage ist in dieser Form auch schlicht falsch. Für eine Person aus einer Risikogruppe, die nicht im Januar geimpft wurde, aber im Februar erkrankt, ist der Erfolg der Impfaktion durchaus vom Timing abhängig. Was auf individueller Ebene offensichtlich ist, gilt auch auf gesellschaftlicher Ebene: Je mehr Personen geimpft sind, desto eher sind Öffnungsschritte möglich.

Jede Woche, welche die Schweiz zu langsam impft, bringt persönliches Leid und ist enorm teuer. Schätzung der volkswirtschaftlichen Kosten pro Monat, die durch schnelles Impfen vermieden werden könnten, belaufen sich auf bis zu 4 Mrd. Fr. pro Monat – zum Vergleich: das vielzitierte gescheiterte IT-Projekt «Insieme» kostete gerade einmal etwas mehr als 115 Mio. Fr. Der verpatzte Start des Schweizer Impfprogramms hat damit das Potenzial, zum teuersten Staatsversagen in der Geschichte des Landes zu werden. Es ist höchste Zeit, die zugrundeliegenden Probleme offen anzusprechen und anzupacken.

[1] Alle internationalen Vergleiche zum Impffortschritt beruhen auf Daten der Plattform «ourworldindata.org».