Dass die durchschnittlichen Produktionskosten von Wind oder Photovoltaik in den vergangenen Jahren deutlich gesunken sind, ist zweifellos eine gute Nachricht. Doch mit dem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in Europa verändert sich auch die Werthaltigkeit des von ihnen produzierten Stroms. Denn die Preise im Grosshandel werden immer mehr durch die Einspeisung von Wind und Photovoltaik beeinflusst. Da ihre Produktion keine Grenzkosten verursacht, sorgen sie bei günstigen Witterungsbedingungen oft für besonders tiefe Preise am Markt. Dieser sogenannte «Merit-Order-Effekt» beeinträchtigt zwar die Ertragsmöglichkeiten aller Kraftwerkstechnologien, doch sind die erneuerbaren Energien selber am stärksten betroffen – schliesslich korrelieren ihre Produktionsspitzen am engsten mit den kurzzeitigen Preiszerfällen. Dies illustriert etwa der relativ gut sichtbare Zusammenhang zwischen der Windstromproduktion und den Marktpreisen in Deutschland (vgl. Abbildung). Weil in vielen Ländern die Förderung über eine kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) erfolgt, geben die Marktpreise keine Signale für eine Verlangsamung oder strukturelle Anpassung beim weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Denn die Ertragsmöglichkeiten der Investoren werden lediglich durch den – von den Preisen unabhängigen – kostendeckenden Förderbeitrag bestimmt. Für die Berechnung des gesamten Subventionsaufwands (sog. Differenzkosten) resultieren daher zwei gegenläufige Effekte. Einerseits lassen neue Technologien sinkende Produktionskosten und damit geringeren Subventionsbedarf erwarten. Anderseits steigt der Subventionsbedarf mit einem abnehmenden Wert des Stroms.
Erneuerbare als Exportmotor
Der zweite Effekt ist umso stärker, je grösser die Leistung der erneuerbaren Energien ist. In Deutschland beispielsweise erreichte die Solarenergie bis Mitte November 2012 eine installierte Leistung von rund 31‘800 MW, jene der Windenergie 29‘400 MW. Zum Vergleich: Der Verbrauch in Deutschland variierte 2010 zwischen Extremwerten von etwa 47‘000 MW und 83‘000 MW. Mindestens theoretisch ist es heute möglich, dass der gesamte deutsche Stromverbrauch kurzzeitig alleine durch Wind und Photovoltaik gedeckt werden kann – am Markt würde ein Preis von null oder gar ein negativer Wert resultieren. Dabei sind jedoch zwei Einschränkungen zu berücksichtigen. Erstens ist die Windstromproduktion vor allem im Winter hoch, während die Solarstromproduktion im Sommer ihr Maximum erreicht. Die installierte Leistung der beiden Technologien lässt sich nicht einfach addieren. Zweitens ist Deutschland keine Strominsel. Seit Jahren exportiert das Land deutlich mehr Strom als es importiert. Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist hierfür ein wichtiger Grund. Ein Blick auf den deutschen Stromaussenhandel zeigt denn auch, dass der Export vor allem im Winter stattfindet. Dann sind nicht nur die durchschnittlichen Marktpreise in Europa höher, sondern auch die Produktivität der Windanlagen (vgl. Abbildung).
Die Exportkraft Deutschlands wurde jedoch gedämpft, als im März 2011 ältere Kernkraftwerke mit einer gesamten Leistung von rund 8‘500 MW vom Netz genommen wurden – das entspricht immerhin fast der Hälfte des gesamten schweizerischen Kraftwerksparks. Umso erstaunlicher ist es, dass Deutschland bereits in diesem Jahr wieder Rekordwerte beim Stromexport erzielt. Besonders interessant ist die Tatsache, dass Deutschland nun auch im Sommer zum Netto-Exporteur wurde, was mit dem ausserordentlich starken Ausbau der Photovoltaik zusammenhängt (vgl. Abbildung).
Die wachsenden Mengen des subventionierten Wind- und Solarstroms in Deutschland wirken daher nicht nur preisdämpfend im Grosshandel, sondern bestimmen gleichzeitig den Export. Weil die Strommärkte eng miteinander vernetzt sind, übertragen sich kurzzeitig fallende Preise unmittelbar auf die benachbarten Länder. Umgekehrt ist wegen des Aussenhandels der Merit-Order-Effekt in Deutschland selbst weniger ausgeprägt. Aus Sicht der Deutschen Stromverbraucher ist das eine negative Externalität: Die von ihnen bezahlten Subventionen kommen nun auch den Nachbarländern zugute. Das gilt nicht zuletzt für die Schweiz, die im Grosshandel vor allem während des Sommers das deutsche Preisniveau übernimmt. Je nach Optik ist dieser Effekt mehr oder weniger willkommen: Während Schweizer Verbraucher von durchschnittlich tieferen Preien profitieren, beklagen die Stromproduzenten die geringeren Erträge der Kern- und Wasserkraftwerke.
Geringer Wert von Solarstrom in der Schweiz
Daneben wird häufig argumentiert, dass die Schweiz von den Erfahrungen Deutschlands und den erzielten Kostensenkungen bei den erneuerbaren Energien profitieren könne. Konsequenterweise solle auch hierzulande der Ausbau vor allem der Photovoltaik vorangetrieben werden. Doch eine solche Strategie ist im Lichte der obigen Diskussion um den Wert des Stroms kaum rational. Hält die Expansion der Photovoltaik in Deutschland und anderen Ländern – vor allem Italien, wo die Photovoltaik-Kapazität 2012 15‘000 MW erreicht hat – unvermindert an, werden künftig im Sommer über die Mittagszeit grössere Strommengen in das europäische Netz eingespiesen.
Der zusätzliche Solarstrom aus der Schweiz würde dann mit Produktionsüberschüssen der Nachbarn und tiefen Marktpreisen zusammenfallen – und übrigens auch mit der höheren Wasserkraftproduktion im Inland. Der Wert des Schweizer Solarstroms wäre gering, die nötigen Subventionen ungeachtet der gesunkenen Kosten hoch. Speichertechnologien sind auf absehbare Zeit aufgrund ihrer eingeschränkten Verfügbarkeit und Wirtschaftlichkeit kaum in der Lage, den temporären Preiszerfall zu begrenzen. Umso wichtiger ist es daher, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz nicht über eine politisch definierte Zuteilung von Subventionen gesteuert wird, sondern in erster Linie durch die Entwicklung der Marktpreise. Das aber setzt eine Abkehr vom bisher praktizierten System der kostendeckenden Einspeisevergütung voraus. Doch in seiner Energiestrategie hält der Bundesrat an diesem Instrument weiter fest. Er will es sogar ausbauen.