Man hört immer wieder, dass die Grösse von Staaten sowohl für das Gewicht in der Weltpolitik als auch für das politische und wirtschaftliche  Wohlergehen entscheidend sei. Es sei immer die «économie dominante», die nationale Standards zu internationalem Recht durchsetze. So dürfe das Projekt des Euro nur schon deshalb nicht scheitern, weil sonst die Stimme Europas in der Weltpolitik unterginge.  Europa könne sich gegen die USA und China nur behaupten, wenn es vereint auftrete und agiere. Die einzelnen europäischen Länder hätten heute keine Verhandlungsmacht mehr.  Ähnlich lautende Befürchtungen werden auch in der schweizerischen Europapolitik immer wieder vorgebracht.  Was ist von diesen Denkmustern zu halten?

1. Kleinheit liegt im Trend

Wenn diese Sichtweise zuträfe, müsste eigentlich jedes kleinere Land bei einem grösseren Staat oder Gebilde Anlehnung oder Schutz suchen. In der politischen Realität scheint jedoch der Drang einzelner Länder nach Selbständigkeit, Unabhängigkeit und damit Souveranität bis zuletzt ungebrochen zu sein. So hat sich die Zahl der selbständigen Mitgliedländer der UNO seit 1950  von 58 auf  189 Länder erhöht.  Selbst in Europa wird in Schottland, Katalonien und Flandern lebhaft über die Unabhängigkeit vom Nationalstaat diskutiert. Im Übrigen erweckt es den Anschein, als ob sich die Länder ausserhalb Europas über ihre Kleinheit oder Isoliertheit in der Weltpolitik viel weniger Sorgen machen. Von Chile, Malaysia oder Singapur – um etwa vergleichbare Länder wie die Schweiz  zu nehmen – hat man kaum je gehört, dass sie sich aus diesen Gründen einem grösseren Gebilde anschliessen müssten.

2. Die Basis des Völkerrechts

Grundsätzlich gilt  das völkerrechtliche Prinzip der Gleichheit der Souveranität der Staaten. Nach der «Friendly Relations Declaration» der UNO von 1970 steht jedem Land das Recht zu, «sein politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System ohne Einmischung irgendwelcher Art durch einen anderen Staat zu wählen». Nach dem internationalen Recht ist somit kein Staat gezwungen, das Recht eines anderen Staates gegen seinen Willen zu übernehmen.

3. Beschränkte Durchsetzungskraft der «neuen Gremien»

Man mag einwenden, dass im Zuge der Renaissance der Machtpolitik in einer multipolaren Welt sich neue imperiale Akteure (grosse Länder oder Gebilde) etablieren werden. Vor allem würden wirtschaftspolitische   Entscheidungsprozesse von den etablierten internationalen Organisationen wie IWF, Weltbank, WTO, OECD usw. in exklusivere Gremien wie die G-20, die G-8 oder den Financial  Stability Board verlagert werden. Letztere werden deshalb als die neuen Regel- und Standardsetzer der Weltwirtschaft angesehen. Wenn man die bisherigen Erfahrungen betrachtet, so nimmt sich die bisherige Regelungs-, Ordnungs- und Durchsetzungskraft  der G-20 oder des Financial Stability Board eher bescheiden aus . So werden etwa die von diesen Gremien initiierten Regulierungen für den Finanzbereich (Basel III, Derivatehandel usw)  oder die Beschlüsse zur Vereinheitlichung der Rechnungslegungsstandards (US-GAAP versus IFRS) entweder sehr unterschiedlich umgesetzt oder kaum beachtet.  Die Leseart von Gipfelbeschlüssen oder Ratsempfehlungen ist jeweils sehr breit. Von daher ist näher Zukunft nicht zu erwarten, dass es z.B. in der Finanzmarktregulierung einen einheitlichen Weltstandard  geben wird. Auch ist völlig unklar, wie etwa die Umsetzung von Regulierungen in China, Indien oder Brasilien kontrolliert werden soll.  Dass sich die OECD gleichsam zum Befehlsempfänger der G-20 erniedrigt hat, sei nur am Rande vermerkt.

4. Aufschwung des Wohnsitzlandprinzips wegen leerer Staatskassen

Zwischenstaatliche Friktionen haben sich im Steuerbereich mit dem sukzessiven Übergang der meisten Staaten vom Territorial- zum Wohnsitzlandprinzip ohne Zweifel gehäuft. Während bei ersterem der Staat nur an der auf seinem Territorium liegenden Wertschöpfungsquellen partizipert, greift er bei letzterem auf alle inländischen und ausländischen Einkommensquellen zu. Dies setzt allerdings voraus, dass er über alle notwendigen Informationen bezüglich der inländischen und ausländischen Erwerbs- und Kapitaleinkommen verfügt.  Während Territorialprinzip und Steuerwettbewerb miteinander verträglich sind, kommt es beim Wohnsitzlandprinzip leicht zu Konflikten, wie die jüngsten Diskussionen um Doppelbesteuerungsabkommen bzw. den automatischen Informationsaustausch zeigen. Charles Blankart spricht deshalb vom Kartell des Wohnsitzlandprinzips zur Maximierung der Steuereinnahmen. «Es ist nicht die höhere Gerechtigkeit (was die auch immer sei), sondern es sind die fiskalischen Gründe, die dem Wohnortsprinzip zum Durchbruch verhelfen. Von einer höheren ethischen Weihe des Wohnortsprinzips kann nicht die Rede sein.

5. Wirtschaftspolitik ist Sache der Nationalstaaten

Schliesslich ist die Vorstellung, alle wirtschaftspolitischen Probleme müssten wegen der Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen auf überstaatlicher, internationaler oder supranationaler Ebene gelöst werden,  abwegig.  Ohne Zweifel bedarf es für globale Fragen wie die Klimapolitik globale Lösungen. Auch bei grenzüberschreitenden Themen wie der Migration, dem Verkehr, der Energie oder der Umwelt ist die internationale Lösungssuche angezeigt. Darüber hinaus bleibt aber der Nationalstaat die adäquate Problemlösungsebene für viele zentrale Aufgaben wie solide Staatsfinanzen, intakte volkswirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, hohe Beschäftigung, soziale Sicherheit und ein leistungsfähiges Bildungs- und Forschungssystem

6. Kleine Länder sind freier

Wirft man einen Blick auf die gängigen Ranglisten der Wettbewerbsfähigkeit oder der Freiheit von Ländern, so fällt auf, dass die kleinen Länder häufig die Nase vorn haben. Bei WEF-Ranking 2012 figurieren unter den  10 führenden Staaten sechs kleinere Länder. Ebenso beim  Index für wirtschaftliche Freiheit 2010 des kanadischen Fraser Institute, wo unter den 10 wirtschaftlich freiesten Länder der Welt sechs kleinere Länder rangieren. Dagegen finden sich die grösseren europäischen Volkswirtschaften weit hinten: Deutschland auf Platz 31, Frankreich  auf Rang 47 und Italien sogar erst auf Platz 83.

Kleine Länder haben auch in einer unberechenbarer gewordenen Welt durchaus Chancen, wenn sie sich auf die makroökonomische Outperformance durch politische und ökonomische Offenheit konzentrieren. Sie sind deshalb auch nicht einfach Befehlsempfänger, weder von grossen Ländern oder Gebilden noch von internationalen Organisationen. Je liberaler die eigenen Lösungen sind, desto überzeugender und besser lässt sich die Forderung nach nationaler Eigenverantwortung und Eigenständigkeit verteidigen.