Die Wiedervereinigung brachte Deutschland 17 Millionen zusätzliche Einwohner mit einem völlig abgeschriebenen Kapitalstock. Viele Probleme der letzten Jahre – wie die Massenarbeitslosigkeit und ihre Folgen – sind hierauf zurückzuführen. Dieser historische Kraftakt, dessen Erfolge sich nach mehr als 20 Jahren nun langsam abzeichnen, wird in der Schweiz nicht hinreichend gewürdigt.

Viele der von den Schweizer Medien gerne diskutierten Schwächen Deutschlands sind real: öffentliche Verschuldung, hartnäckige Arbeitslosigkeit, Sozialstaatsgläubigkeit, gescheiterte Ausländerintegration. Auch die Mehrheit der 250 000 hier lebenden Deutschen schaut oft mit Sorge auf ihr Land, und viele betrachten die Schweiz gar als «das bessere Deutschland». Aber in der öffentlichen Debatte kultiviert man auch ein Zerrbild des nördlichen Nachbarn. Man weidet sich an den «Bad News», die über die Grenze dringen, und freut sich dadurch umso mehr, Schweizer zu sein.

Vergleichsweise wenig berichtet wird hingegen über positive Entwicklungen. Mit der DDR übernahm Westdeutschland 1990 einen vollkommen abgewirtschafteten Staat. Jedes einzelne Haus, jede Fabrik und die gesamte Infrastruktur musste quasi neu aufgebaut werden. Ein Land mit 17 Millionen Einwohnern – das entspricht der gesamten Bevölkerung der Schweiz und Österreichs  zusammengenommen – stand plötzlich mit einem völlig abgeschriebenen Kapitalstock da.

Historischer Kraftakt

Mehr als zwei Dekaden später ist Ostdeutschland in weiten Teilen neu aufgebaut. Wer durch Dresden, Erfurt oder Stralsund fährt, sieht nagelneue  Strassen, sanierte Altstädte, moderne Universitäten, neue Fabriken und von Umweltschäden befreite Landschaften. Das durch Krieg und Teilung geschundene Berlin erlebte die Transformation zu einer Metropole von europäischem Rang.

Die Wiedervereinigung war ein historischer Kraftakt ohnegleichen und es scheint wie ein Wunder, dass Deutschland nicht daran zerbrach. Sämtliche bisherigen Ost-West-Transfers summieren sich auf 1800 Mrd. €. Das entspricht fast genau der gesamten Staatsverschuldung. Ohne die Lasten der Wiedervereinigung könnte Deutschland also theoretisch schuldenfrei sein.

Auch auf dem Arbeitsmarkt hat sich einiges getan. Trotz des grössten Wirtschaftseinbruchs seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Arbeitslosenquote in Deutschland heute niedriger als vor der Krise. Mehr noch: Deutschland hat derzeit zwei Millionen Arbeitslose weniger als 2005 – und sogar die niedrigste Arbeitslosenquote seit 20 Jahren. Inzwischen erscheint sogar eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung möglich. All diese Erfolge verdanken sich harten Strukturreformen, 15 Jahren mit moderaten Lohnforderungen und der Einführung flexibler Beschäftigungsmodelle auf Firmenebene.

Und sonst? Die Staatsquote in Deutschland hat sich in den Jahren vor der Krise um fast 5% verringert. Sie liegt heute unter dem EU-Durchschnitt und etwa einen Fünftel niedriger als in Frankreich. Deutschland ist Exportvizeweltmeister und wird mit seiner wettbewerbsfähigen Industrie derzeit von angelsächsischen Ökonomen sogar als Zukunftsmodell gefeiert.

Von wegen «Steuerhölle»

Selbst an der Steuerfront ging Erstaunliches: In den letzten 15 Jahren wurde die Vermögenssteuer abgeschafft und der Spitzensatz der  Einkommenssteuer um zehn Prozentpunkte gesenkt. Seit 1990 haben sich die direkten Unternehmenssteuern fast halbiert. Die 2007 eingeführte Abgeltungssteuer hat die Steuer auf alle Kapitalerträge auf pauschal 25% reduziert. Über die damit verbundene massive Steuersenkung auf mobiles Kapital wurde in der Schweiz kaum berichtet.

Die Beispiele zeigen, dass es im nördlichen Nachbarland neben all dem Schatten eine Menge Licht gibt. Auch in Deutschland treten die guten Nachrichten gegenüber dem kleinkarierten Streit der Tagespolitik allzu häufig in den Hintergrund. Aber Deutschland hat nach der Wiedervereinigung viele strukturpolitische Hausaufgaben gemacht und beginnt nun, die Früchte dieser Arbeit zu ernten. Zwei Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR wurde der Anspruch ihrer Nationalhymne «auferstanden aus Ruinen» schliesslich eingelöst.

Leicht veränderte Fassung eines Beitrags, der am 1. Oktober 2010 im Tages-Anzeiger erschien.

Das 15. Zermatter Symposium thematisierte die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz.