Kürzlich hat sich der französische Präsident Emmanuel Macron kritisch zur Zukunft der Nato geäussert. In ihrer letzten Publikation hat Avenir Suisse die Frage gestellt «Was wäre, wenn die Nato handlungsunfähig wird?» und mögliche Handlungsoptionen für die Schweiz herausgearbeitet:

Handlungsempfehlung

Dass sich die global stärkste militärische Ordnungsmacht mit ihren Truppen aus Europa zurückzieht, wird von der aktuellen US-Administration regelmässig artikuliert. Mit einem klugen Verhalten der europäischen Nato-Partner kann dem aber begegnet werden. Spannungen zwischen Washington und Europa rund um Lastenverteilungen gibt es schliesslich seit über 50 Jahren.

Die aktuellen Entwicklungen der transatlantischen Beziehungen und der US-chinesischen Beziehungen sind von den Europäern und der Schweiz sicherheitspolitisch einzuordnen. Der Anteil der in Europa stationierten US-Truppen nimmt seit Ende des Kalten Krieges kontinuierlich ab. Sogar die Krim-Besetzung und der Krieg in der Ostukraine hatten in absoluten Zahlen keinen Anstieg eines US-Kontingents unter Präsident Obama zur Folge. Gleichzeitig steigt das Kontingent in Asien. Dies lässt den Schluss zu, dass auf globaler Ebene der sicherheitspolitische Hauptkonkurrent für Washington nicht mehr Russland ist, sondern China. Geht man davon aus, dass die Vorherrschaft in der technologischen Sphäre heute so wichtig ist wie früher das Beherrschen der Weltmeere, dann kann Russland kein ernsthafter Konkurrent der USA mehr sein.

Zwar mag Kennedy rhetorische Kritik an Europa geübt haben, aber sein Bekenntnis zu einem freien, demokratischen Europa wurde auch in Taten bekräftigt. In der gegenwärtigen Administration wird jedes US-Engagement in einer multilateralen Institution verstärkt in ein Kosten-Nutzen-Verhältnis gestellt, und man scheint in Washington von der Annahme auszugehen, dass unterdurchschnittliche Zahlungen anderer Mitgliedsstaaten als kumulative Schulden an die USA zu interpretieren sind. Mittlerweile wird ein Rückzug der USA aus Europa von zahlreichen renommierten Instituten und Personen in den Bereich des Denkbaren gerückt. Auch wenn die Annahmen vorerst hypothetischer Natur sind, so wird bereits über mögliche Folgen geschrieben.

Neue Bedrohungslagen für Schweizer Landesverteidigung

Die Schweiz tut gut daran, sich auch mit solchen Szenarien und damit möglichen neuen Bedrohungslagen ernsthaft auseinanderzusetzen, gerade im Bereich der Cybersicherheit; Zu einem Cyberangriff kann es schliesslich auch ohne einen Rückzug der USA aus der Nato kommen.

Die Struktur der öffentlichen Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung ist angesichts der neuen Bedrohungslagen zu thematisieren. Beispielsweise werden für Infanterie und Artillerie immer noch hohe materielle, personelle und finanzielle Ressourcen aufgewendet, während Cyberabwehr und Nachrichtendienst mit viel bescheideneren Mitteln auskommen müssen. Wenn die Schweiz in der Cyberabwehr à jour sein will, dann ist die gegenwärtige Priorisierung der Verteidigungsausgaben zu prüfen. Es gilt, die Konsequenzen eines Ausbaus der Software-Kapazitäten der Schweizer Armee auf Kosten der Hardware (Artillerie, Sollbestand in der Infanterie) aufzuzeigen.

Schon lange wird spekuliert, dass die klassischen zwischenstaatlichen Kriege mit grossen stehenden Heeren der Vergangenheit angehören. Bei Konflikten gibt es einen Trend zur Minimierung der eigenen Schäden bei gleichzeitiger Maximierung des Nutzens. Konkret bedeutet dies, dass möglichst wenig eigenes Personal geopfert werden soll, um ein Ziel (Annexion, Abschreckung, Verhaltensänderung eines Akteurs) zu erreichen. Dies gilt im Umkehrschluss auch für einen auf Verteidigung ausgerichteten Staat wie die Schweiz. Ein hoher Personalbestand der Armee muss damit nicht per se die beste Sicherheitsgarantie sein – ein Cyberangriff auf einen Energieversorger wird von IT-Spezialisten in der Cyberabwehr vereitelt und nicht von Bodentruppen.

Bei der Weiterentwicklung der Schweizer Sicherheitspolitik kann das Zusammenspiel von Staat, Privatwirtschaft und Wissenschaft angesichts der Innovationskraft des Wirtschaftsstandortes einen wichtigen ökonomischen und gleichzeitig sicherheitspolitischen Impuls bringen, wie es Israel vormacht. Wenn die digitalen Visionen von heute Realität werden, dann wird Cybersicherheit auch in der zivilen Infrastruktur zentral sein. Die Konvergenz zwischen militärischem und zivilem Know-how sollte die Schweiz in der digitalen Sphäre verstärkt angehen.

Im Moment ist die Schweiz mehrheitlich von Nato-Staaten umgeben, die ihrerseits vom amerikanischen Schutzschirm profitieren. Sollte dieser Löcher bekommen, dann müsste sich auch die Schweiz neu positionieren. Selbst wenn die faktische Handlungsunfähigkeit der Nato derzeit nur ein hypothetisches Gedankenspiel ist, so sind Schweizer Strategievarianten zu prüfen, die das Potenzial für eine vertiefte sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit europäischen Partnern aufzeigen, die ähnliche Interessen verfolgen. Ein verstärkter Austausch von Know-how und Informationen über Erkenntnisse, Gefährdungen und Trends kann für die Armee, den Nachrichtendienst und die Polizei wesentliche Sicherheitsgewinne bringen, muss aber keinesfalls eine Abkehr von der völkerrechtlich klar definierten Neutralität bedeuten. Neutralität selbst ist ein völkerrechtlich verankerter Begriff, der vor allem im Kriegsfall relevant ist.

Weiterführende Informationen finden Sie in der Publikation «Was wäre, wenn… – 13 mögliche Entwicklungen und ihre Konsequenzen für die Schweiz».