Die Wirtschaft der Schweiz gilt als eine der stabilsten Volkswirtschaften der Welt. Berechnet nach dem Bruttoinlandsprodukt liegt die Schweiz weltweit an 19. Stelle, nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sogar auf dem vierten Platz. Trotz Krise steht das Nicht-EU-Land in den internationalen Rankings weiterhin ganz oben. Ein hohes Wirtschaftswachstum, geringe Arbeitslosigkeit, hohe Lebensqualität und eine Schuldenbremse, die funktioniert.

Gerhard Schwarz beim Vortrag im Spiegelsaal der Andrássy Universität.

Ein jüdisches Sprichwort besagt: «Wen Gott strafen will, dem erfüllt er alle seine Wünsche.» Unter dem Titel «Der Fluch des Erfolgs – Die Schattenseiten der soliden und liberalen Schweizer Wirtschaftspolitik» beleuchtete Gerhard Schwarz, Direktor des Schweizer Think-Tanks Avenir Suisse, am Mittwoch die Schwierigkeiten, die der Erfolg für das Land mit sich bringt. Der Vortrag war Teil der Carl-Lutz-Reihe, die zu Ehren des Schweizer Diplomaten von der Andrássy Universität und der Schweizerischen Botschaft ausgerichtet wird.

Einer für alle, alle für einen

«Vom Armenhaus zum Wirtschaftswunder», beschreibt Schwarz die Wirtschaftsentwicklung der Schweiz seit der Staatsgründung  l848. Das kleine Land verfüge kaum über natürliche Ressourcen, dafür aber karges Land. Das habe dazu geführt, dass die Schweizer eine Mentalität der Anstrengung und Bescheidenheit entwickelt hätten. Paradox, aber genau das sei der Schlüssel zum Erfolg, sagte Schwarz. Hinzu käme die Schweizer Offenheit – seit jeher lebten in diesem Land sehr unterschiedliche Kulturen. «Einer für alle, alle für einen.» – die wirtschaftliche Selbstbestimmung, das «antifeudalistische Projekt Schweiz», würde die Menschen zudem verbinden.

Der Fluch des Erfolgs

Und dennoch: «Wir sind von der Wirtschaftskrise stärker betroffen, als manches EU-Land», sagte Schwarz. «Sie hat den Schweizer Franken nach oben getrieben. Für die Realwirtschaft ist dies schwer zu verkraften.» Würde die Währung zu schnell aufgewertet, könnten viele Unternehmen ins Ausland abwandern. Dass man den Franken Anfang September an den Euro gekoppelt hätte, würde das Problem nur geringfügig abmildern. Hinzu kommt, dass Reichtum immer auch anziehend wirke: «Die Zuwanderung wird zu einem Platzproblem für die Schweiz. Die Wohnungspreise schnellen in die Höhe, Busse und Bahnen, Universitäten und Schulen sind überfüllt. Die Unzufriedenheit wächst.» Gleichzeitig wachse der europäische Druck, sich in der Krise solidarisch zu zeigen. Obendrein steht seit Jahren dieselbe Frage im Raum, ob die Schweiz der EU und dem Euro beitreten solle.

Erfolgreich durch Anderssein

Sich dem Druck zu beugen und dem Euro anzuschließen, sieht Schwarz dennoch nicht als die Lösung der Schweizer Probleme. «Die Eurozone hat gezeigt, dass große regionale Unterschiede nicht in einer Währung zusammengefasst werden können», sagte er. «Gleichzeitig müssen wir darauf achten, den eigenen Staatshaushalt in Ordnung zu halten. Die Steuerlast darf nicht explodieren.» Er sprach sich weiter dafür aus, den offenen Schweizer Arbeitsmarkt zu verteidigen. «So können wir auf wirtschaftliche Veränderungen am besten reagieren», ergänzte er. Es bedürfe ausserdem institutionalisierter Wege, über die die Schweiz und die EU miteinander verknüpft würden. Nur eine Semi-Autonomie könnte die Freiheit der Schweiz erhalten. «Die Schweiz muss Mut haben und anders bleiben, nur so bleibt sie weiterhin erfolgreich», sagte Schwarz.

Ungarns Bevölkerungszahl ist in etwa mit der Schweiz zu vergleichen, auch Ungarn ist ein karges Land – es verfügt dennoch über ausgezeichnete Universitäten und kreative Köpfe. Unweigerlich stellt sich die Frage, was Ungarn von der Schweiz lernen kann. Mit Ratschlägen hält Schwarz sich allerdings zurück. Dennoch, betonte er, sehe er vor allem in der direkten Demokratie einen großen Vorteil für Staaten: «Durch die direkte Demokratie entsteht ein Gefühl der Verantwortung, die Einstellung: Der Staat sind wir alle», sagte Schwarz. Die Ungarn seien ein offenes Volk. Die Offenheit – gepaart mit der fiskalpolitischen Nüchternheit der Schweiz – sollten die Ungarn nutzen, um sich weiterzuentwickeln.

Dieser Artikel erschien in der «Budapester Zeitung» vom 14.- 20.September 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der «Budapester Zeitung».

Am 12. September 2012 hielt Gerhard Schwarz im Spiegelsaal der Andrássy Universität in Budapest den Carl-Lutz-Vortrag zum Thema «Der Fluch des Erfolgs – Die Schattenseiten der soliden und liberalen Schweizer Wirtschaftspolitik». Diese Vortragsreihe, die an den schweizerischen Vizekonsul Carl Lutz erinnert, der während des Zweiten Weltkrieges Zehntausenden von ungarischen Juden das Leben gerettet hat, wird gemeinsam von der Andrássy Universität und der Schweizerischen Botschaft in Budapest organisiert.