Die Zersiedelung der Schweiz schreitet voran. Alle zwei Stunden wird die Fläche eines Fussballfelds verbaut. Soll die Schweiz in diesem Stil «weiterdörfeln» – wie Max Frisch schon vor sechzig Jahren warnte – oder ist es an der Zeit, Gegensteuer zu geben?

Seit gut drei Jahrzehnten muss die Schweiz jährlich Platz finden für 50 000 neue Einwohner. Doch wohin mit den Menschenmassen? Da der Platz im Mittelland und in den Metropolen jetzt schon knapp ist, werden laufend neue Flächen bebaut. Doch die Zersiedelung, das unstrukturierte Bauen in der Landschaft, ist mit erheblichen ökologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nachteilen verbunden. Zersiedelung ist aber nicht nur dem Bevölkerungswachstum geschuldet, sondern auch einem veränderten Lebensstil mit höheren Ansprüchen an Wohnraum und Mobilität.

Die Thematik, wo gebaut werden soll und wo nicht, ist nicht neu. Schon 1955 hatte ein kleines rotes Buch mit dem Titel «Achtung: Die Schweiz» vor einer weiteren Verdörfelung gewarnt. Die drei Autoren – Soziologe Lucius Bruckhardt, Historiker Markus Kutter sowie Architekt und Schriftsteller Max Frisch – schlugen darin vor, im Mittelland eine neue Stadt zu bauen, anstatt das Geld für die Expo 64 auszugeben. Es sollte eine Stadt nach den damals modernsten städtebaulichen Normen und Prinzipien werden – eine Metropole mit Modellcharakter. Die Politik hatte kein Ohr für die futuristischen Ideen des Trios, die Modellstadt wurde nie gebaut.

Heute steht die Schweiz an einem Wendepunkt. Ohne griffige Gegenmassnahmen wird die Zersiedlung weiter zunehmen – und mit ihr die negativen Auswüchse. Eine intelligente und vorausschauende Raumplanung ist nicht nur eine Herausforderung für Ingenieure und Architekten, sondern vor allem für die Politik, sagt Daniel Müller- Jentsch. Der Volkswirt ist beim Think-Tank Avenir Suisse zuständig für die Bereiche räumliche Entwicklung, Migration und Standortwettbewerb.

Rino Borini: Herr Müller-Jentsch, was würden Sie nehmen, wenn Sie die Wahl zwischen einem Halbtax oder einem Generalabonnement der SBB hätten?

Daniel Müller-Jentsch: Als Konsument das GA, als Ökonom das Halbtax. Doch verkehrspolitisch ist das GA ein Auslaufmodell.

Warum?

Es ist viel zu billig, die Grenzkosten zusätzlicher Mobilität sind gleich null.

Ich frage deswegen, weil die günstige Mobilität oft als Sündenbock für die Zersiedelung herhalten muss. Zu Recht?

Es gibt in der Schweiz zwei Haupttreiber der Zersiedelung: die wachsende Bevölkerung und der steigende Flächenverbrauch pro Person. Diese sind das Resultat des steigenden Wohlstands, der kleineren Haushalte aber auch einer Agglomerationsbildung dank verbesserter Verkehrsinfrastruktur.

Und was für Auswirkungen hat dies auf das Pendlertum?

Der Anteil der Pendler an der Erwerbsbevölkerung hat sich seit 1970 verdoppelt, wir werden immer mobiler. Der Grund sind auch politische Weichenstellungen, die in der Vergangenheit falsch gesetzt wurden.

Worauf spielen Sie an?

Die hohe Subventionierung der Mobilität ist ein Problem. Nehmen wir den öffentlichen Verkehr: Wir haben hier einen Kostendeckungsgrad, unter Berücksichtigung der Investitionen, von gerade mal vierzig Prozent. Das heisst, die Mobilität wird künstlich billig gehalten. Und wie jedes Produkt, dessen Preis man künstlich tief hält, wird sie im Übermass konsumiert.

Was sind die Folgen?

In einem Zustand mit fehlender Kostenwahrheit wird die Wahl des Wohnorts anders getroffen, als wenn jeder die Kosten seiner Entscheidung selber tragen müsste. Das bedeutet, die Menschen pendeln mehr und über längere Distanzen. Alleine zwischen 2005 und 2010 nahm die Zahl der mit dem Zug gefahrenen Kilometer in der Schweiz um ein Viertel zu.

Also setzt der Staat die falschen Anreize?

Genau. Aber auf Dauer ist dieser Zustand schlicht nicht finanzierbar. Alleine für das Nationalstrassennetz wird bis 2030 ein Erweiterungsbedarf von 45 Milliarden Franken veranschlagt. Aus dieser Spirale zwischen wachsender Mobilität und staatlich finanzierter Angebotsausweitung müssen wir ausbrechen.

Wie zeigen sich die Fehlanreize konkret?

Wer für seine Bestellung nicht bezahlen muss, fordert stets das Maximum. Derzeit wird die Finanzierung aus einer Blackbox generiert, konkret aus dem Steuersäckel. Das ist der Grund, warum Politiker und Konsumenten immer mehr verlangen. Damit verstösst die Verkehrspolitik gegen zwei ansonsten allgemein anerkannte Prinzipien: die Kostenwahrheit und das Verursacherprinzip.

Die Preise für Billette oder Benzin sollten demzufolge erhöht werden?

Ja. Aber es geht nicht darum, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen und auch nicht darum, für den Staat Mehreinnahmen zu generieren.

Sondern?

Es geht um eine Umschichtung der Finanzierung. Wenn der Staat den nutzerfinanzierten Anteil ausbaut, kann er die Subventionen zurückfahren und an anderer Stelle Steuern senken. Dadurch könnte man in der Mobilitätsnachfrage die richtigen Anreize setzen und den Bedarf an teurer Infrastruktur verringern. Unter dem Strich sänken die Kosten für das Verkehrssystem sogar.

Das starke Bevölkerungswachstum ist ein weiterer Treiber der Zersiedelung. Doch dieses Wachstum gibt es schon seit Jahrzehnten, nicht erst seit den letzten zehn Jahren.

Das ist richtig. Seit den Fünfzigerjahren hat die Eidgenossenschaft dieselbe prozentuale Bevölkerungszunahme erlebt wie Deutschland mit der Wiedervereinigung. Die Schweiz hat, relativ betrachtet, die gesamte DDR integriert, aber ohne Ausdehnung des Territoriums. In den letzten dreissig Jahren nahm die Bevölkerung um 1,5 Millionen zu, das entspricht etwa 50 000 Personen pro Jahr.

Geht es weiter in diesem Tempo?

Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit vor zehn Jahren ist das Wachstum sogar auf 70 000 pro Jahr angestiegen. Jedes Jahr muss also eine Stadt von der Grössenordnung St. Gallens über das Land verteilt neu gebaut werden. Dieses Wachstum muss irgendwie kanalisiert werden.

Müssen wir irgendwann mit der Neun- oder gar Zehn-Millionen-Schweiz rechnen?

Die erwähnten 50 000 neue Einwohner pro Jahr sind ein stabiler Langfristtrend. Auf dieser Basis ist die Neun-Millionen-Marke bis zum Jahr 2030 erreicht. Hält das Wachstum weiter an, sind auch 10 Millionen möglich, doch solche Langfristprognosen sind schwierig. Bleiben wir bei der Neun-Millionen- Marke bis zum Jahr 2030, das ist ein realistisches Szenario.

Haben wir überhaupt Platz für so viele Menschen?

Objektiv betrachtet gibt es weder eine optimale noch eine maximal mögliche Bevölkerungsdichte. London hat auf einer Fläche, die kleiner ist als die des Kantons Zürich, acht Millionen Einwohner. Und London zählt weltweit nicht einmal zu den dichteren Städten. Auch in den inneren Bezirken von Tokyo leben so viele Menschen, wie in der Schweiz, aber auf einer Fläche des Kantons Glarus. Manhattan mit seinen zwei Millionen Einwohnern würde ins Limmattal passen. Die Diskussion um Grenzwerte ist daher müssig, entscheidend ist, welche Dichte für die Schweizer Bevölkerung akzeptabel ist.

Sollte man künftig dichter bauen?

Verdichtung ist durchaus sinnvoll und wird fast schon wie ein Mantra allseits beschworen. Je dichter man baut, desto wichtiger sind eine qualitativ hochwertige Stadtplanung und Architektur. Das grösste Verdichtungspotenzial gibt es nicht in den Kernstädten, sondern im ersten Agglomerationsgürtel der Grossstädte. Hier geht es um grosse Gebiete mit geringer Dichte und guter Verkehrsanbindung. Dazu zählen beispielsweise das zürcherische Glatttal oder die Villenquartiere um die Stadt Genf herum.

Gibt es gut umgesetzte Beispiele?

Die Stadt Zürich hat in den vergangenen zehn Jahren rund 10 000 neue Wohneinheiten geschaffen, und dies häufig auf alten Industriearealen. Auch dem Kanton Zürich, der raumplanerisch eine Vorbildfunktion übernimmt, ist es über die letzten 15 bis 20 Jahren gelungen, erfolgreich nachzuverdichten.

Die jüngsten Zahlen des Bundes zeigen, dass noch genügend Bauzonen vorhanden sind. Der Drang zum Verdichten ist somit nicht allzu gross, oder?

Gemäss aktueller Bauzonenstatistik gibt es landesweit 30 000 bis 40 000 Hektaren unbebautes Bauland – genügend Platz für ein bis zwei Millionen zusätzliche Einwohner und das ohne Nachverdichtung.

Aber?

Diese gigantischen Reserven liegen jedoch vorwiegend in ländlichen, infrastrukturell schlecht erschlossenen Gebieten. Die fehlplazierten Bauzonenreserven sind die grösste Altlast der Schweizer Raumplanung. Sie sind das Resultat einer schlecht koordinierten Einzonungspolitik.

Was sind die konkreten Folgen dieser Fehlplanung?

Sie lenkt die Nachfrage nicht in die Verdichtung sondern auf die grüne Wiese, wo das Bauland billig ist. Wenn man die fehlplazierten Bauzonen einfach dort volllaufen lässt, wo sie derzeit liegen, bringt dies aber infrastrukturelle Folgekosten in Milliardenhöhe mit sich. Und da sind wir wieder bei den Verkehrssubventionen: Die Zeche zahlt am Ende der Steuerzahler.

Was kann dagegen unternommen werden?

Die fehlplazierten und überdimensionierten Bauzonenreserven muss man angehen, wenn man die Nachfrage und das Wachstum in zentrale Lagen lenken will. Dort ist dichtes Bauen möglich und die Infrastrukturerschliessung ist gut.

Hat die Politik in der Vergangenheit geschlafen?

Es gibt schon seit 1980 klare Regeln zur Siedlungssteuerung auf Bundesebene, verankert im Raumplanungsgesetz. Es gibt Kantone, die gute Arbeit geleistet haben, andere haben ihre Hände in den Schoss gelegt. Avenir Suisse hat schon 2010 in einem Kantonsvergleich auf entsprechende Vollzugsdefizite hingewiesen.

Aber auch unabhängig von der Zersiedelung liegt das Bevölkerungswachstum dem Volk auf dem Magen.

Es ist nachvollziehbar, dass ein gewisser Unmut herrscht. Doch man muss unterscheiden zwischen der emotionalen Seite und den objektiven Kosten des Wachstums. Blicken wir zurück: Nach der Einführung der Personenfreizügigkeit überwogen die Vorteile, ganz klar. Aber aufgrund der kumulativen Effekte und des hohen Tempos der Bevölkerungszunahme hat sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis verschoben. Die Kosten der Zuwanderung und des Wachstums rücken zusehends ins Blickfeld. Darum werden sie auch auf dem politischen Parkett vermehrt thematisiert.

Sollte man den Hebel bei der Personenfreizügigkeit ansetzen?

Die Abkehr von einer Kontingentierungspolitik hin zu Personenfreizügigkeit war eine gute Entscheidung und einer der Hauptgründe, dass die Schweiz eine Boomdekade hinter sich hat und so gut durch die Krise gekommen ist. Aber der Erfolg hat auch seinen Preis.

Wo liegt das Problem?

Das Problem mit der Zuwanderung ist unter anderem das Tempo. Bestimmte Systeme wie der Wohnungsmarkt oder die Verkehrsinfrastruktur sind träge und brauchen mehr Zeit zur Anpassung. Eine Drosselung des Zuwanderungstempos wäre wünschenswert.

Und wie könnte man die Zuwanderung drosseln?

Stellschrauben sind etwa eine Erschwerung des Familienzuzugs, eine restriktivere Asylpolitik aber auch eine gewisse Zurückhaltung bei bestimmten Formen des Standortmarketings.

Die Zuwanderung findet insbesondere in den fünf grossen Regionen statt. Sind dort auch die Problembereiche?

Es ist in der Tat so, dass in den fünf Metropolitanregionen auf 10 Prozent der Landesfläche 50 Prozent der Bevölkerung lebt, und 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts generiert werden. Das sind die Wachstumsmotoren der Schweiz, aber auch die Hotspots, in denen die Probleme besonders zu Tage treten. Denn hier, wo Raum und Wohnungen bereits heute knapp sind, konzentriert sich die Zuwanderung.

Werden die Metropolitanregionen deswegen immer grösser?

Genau, die Nachfrage weicht von den Kernstädten in die Agglomeration aus. Zuerst gab es den ersten Agglomerationsgürtel, dann den zweiten und inzwischen sind wir beim dritten angekommen. Die Agglomeration Zürich reicht heute von Schaffhausen bis in die Zentralschweiz hinein. Diese Agglomerationen sind raumplanerische Problemzonen, da sich hier ehemals ländliche Gebiete ohne entwickelte Planungskultur in stadtähnliche Strukturen verwandeln. Dies erleben wir in weiten Teilen des Mittellandes.

Sollte man die Schweiz vermehrt als Gesamtbild betrachten?

Avenir Suisse hat bereits im Jahr 2005 ein Buch herausgegeben mit dem Titel «Stadtland Schweiz». Schon damals wurde gezeigt, dass die Schweiz räumlich, funktional und wirtschaftlich im Prinzip eine grosse Metropolitanregion darstellt.

Dies bedingt aber eine Überwindung des «Kantönligeists».

Ja, denn geplant wird die räumliche Entwicklung dieses Gebildes noch von 2500 Gemeinden und 26 Kantonen. Deren Grenzen stammen teilweise aus dem Mittelalter und entsprechen den heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen häufig nicht mehr. Um diese zusammenhängende Stadtlandschaft sinnvoll zu entwickeln, braucht es gemeinde- und kantonsübergreifende Steuerungsinstrumente. Die Schweiz und ihre räumliche Zukunft muss städtebaulich gedacht werden – eben als Stadtlandschaft Schweiz.

Was wären die Folgen einer solchen Steuerung?

Es betrifft die Siedlungsstruktur, die Infrastrukturentwicklung und den Schutz der Landschafts- und Naherholungsräume. Letztendlich werden die Freiflächen zwischen den Agglomerationen immer knapper, darum sollten diese künftig als städtische Parklandschaften betrachtet und behandelt werden. Und das sind Herausforderungen, die in Fachkreisen schon länger anerkannt sind, aber ihren Weg erst langsam in die Politik finden.

Gibt es nicht bereits Ansätze für ein Umsteuern?

Doch, die gibt es. Ein Beispiel sind die Agglomerationsprogramme des Bundes. Ein anderes ist das Raumkonzept Schweiz, das von Bund, Kantonen, Gemeinden und Städten 2012 beschlossen wurde. Es ist eine gemeinsame Vision für die räumliche Entwicklung der schweizerischen Stadt-Landschaft. Aber noch fehlt das Instrumentarium, um die Raumentwicklung auch tatsächlich zu beeinflussen.

Abschliessend: An welchen drei Stellschrauben würden Sie drehen, damit die Schweiz nicht komplett zersiedelt wird und die landschaftlichen Standortqualität erhalten bleibt?

Erstens müssen die Instrumentarien für die Steuerung der Siedlungsentwicklung auf Bundes- und Kantonsebene griffiger werden, insbesondere im Hinblick auf die fehlplatzierten Bauzonenreserven. Zweitens: Die Schweiz muss in ihrer räumlichen Entwicklung als Stadtlandschaft verstanden werden. Das bedingt eine stärkere Kooperation über Gemeinde- und Kantonsgrenzen hinweg, insbesondere in den Agglomerationen. Und drittens: In der Verkehrspolitik, die letztendlich die räumliche Entwicklung stark mitlenkt, bedarf es einer grösseren Kostenwahrheit.

Dieses Interview erschien in der März/April Ausgabe 2013 des Punktmagazins.