Im Gespräch mit Jürg Müller gibt der Historiker André Holenstein Einblick in die Welt des 18. und 19. Jahrhunderts, als unser Kleinstaat globalen Trends sowie technologischen und ökonomischen Entwicklungen ausgesetzt war. Schon damals forderten diese Veränderungen die Politik heraus – die Parallelen zu heute sind teilweise frappant.

Avenir Suisse: Herr Holenstein, Sie haben einmal geschrieben, dass sich das Gebiet der heutigen Schweiz in der Zeit von 1789 bis 1848 in einer permanenten Staatskrise befand. Wie müssen wir uns den Alltag damals vorstellen?

André Holenstein: Es gibt nicht den einen Alltag, sondern eine Vielzahl von Alltagswelten – je nachdem, ob Sie in einer Kleinstadt oder auf dem Land leben, ob Sie im Gebirgsraum oder Mittelland wohnen, ob Sie Handwerker in Zürich oder Heimarbeiter im Toggenburg sind. Die Schweiz ist – wie Europa generell bis ins 19. Jahrhundert – eine sozial stark differenzierte Gesellschaft. Die Menschen leben ökonomisch, politisch und gesellschaftlich in sehr unterschiedlichen Milieus.

Können Sie diese Milieus etwas beschreiben?

Es gibt enorme Unterschiede zwischen wenigen Wohlhabenden und relativ vielen am sozial-ökonomisch unteren Ende der Gesellschaftsstruktur. Und es gibt viel Ungleichheit in politisch-rechtlicher Hinsicht. Die Schweiz ist kein politisch-rechtlich vereinheitlichter Raum, sondern bis in die revolutionäre Umbruchszeit hinein ein Konglomerat unterschiedlichster Gebiete und Territorien. In vielen Untertanengebieten haben die Menschen politisch nichts zu sagen – ausser in der lokalen Selbstverwaltung, die nicht zu unterschätzen ist. Lokal reden die Leute viel mit, aber auf Kantonsebene herrschen die aristokratisch-patrizischen Familien aus der Machtelite, insbesondere in den Städten Zürich, Luzern, Bern, Solothurn, Freiburg und Basel.

Verändern sich denn die verschiedenen Alltagskulturen zu jener Zeit?

Ja. Der Alltag ist im 18. Jahrhundert gerade auch aus wirtschaftlichen Gründen für viele in Bewegung. Die Schweiz ist ein Raum, der bereits im Ancien régime relativ dynamisch unterwegs ist, wenn auch je nach Sektor unterschiedlich intensiv. Die Landwirtschaft ist eher durch Stagnation gekennzeichnet, weil die wichtigen Modernisierungsschübe erst im 19. Jahrhundert erfolgen: die Bodenbefreiung, die Mechanisierung, der Einsatz von chemischen Mitteln usw. Gleichwohl ist das 18. Jahrhundert eine Zeit, in der bei der intellektuellen Elite Reformprogramme für die Landwirtschaft entwickelt werden. Das hängt damit zusammen, dass die Bevölkerung interessanterweise über viele Jahrhunderte hinweg stetig gewachsen ist. Wir haben hier keine Kriege, und die letzten Seuchen traten vor dem 18. Jahrhundert auf. Wir haben also ein relativ stetiges Bevölkerungswachstum, das besonders intensiv ist in den Gebieten der sogenannten «Protoindustrialisierung».

André Holenstein, Professor für ältere Schweizer Geschichte und vergleichende Regionalgeschichte am Historischen Institut der Universität Bern. (Annette Boutellier)

Können Sie diese Entwicklung etwas genauer erläutern?

Im Zuge der Protoindustrialisierung wandelt sich die Wirtschaft in einzelnen Regionen sehr stark zu einer exportorientierten Warenproduktion. Das sind vor allem Textilien, Leinwand aber auch Baumwolle und in der Westschweiz um Genf herum sowie im Jura die frühe Uhren- und Schmuckindustrie. In diesen Räumen entstehen ökonomische Strukturen, die es möglich machen, dass Leute einen eigenen Hausstand, eine eigene Familie gründen und Kinder kriegen können. Vorher hätte ihnen dazu die Subsistenzbasis im agrarischen Bereich gefehlt. Das heisst, wir haben in Gegenden wie dem Zürcher Oberland, im Toggenburg oder Appenzell, im bernischen Aargau und in der Basler Landschaft im 18. Jahrhundert eine stark wachsende Bevölkerung. Die Schweiz war ja nie ein Gebiet, das sich selber mit Getreide genügend versorgen konnte, sondern war immer auf Importe angewiesen. Umso mehr stellt sich bei wachsender Bevölkerung die Frage, wie man diese Menschen ernähren könnte.

Wie stark ist die Schweiz damals international eingebunden?

Sie sprechen hier einen wichtigen Aspekt der Schweizer Geschichte an, nämlich die Verflechtung. Die Dynamik des 18. Jahrhunderts erfolgt vielfach in Industrien, für die es in der Schweiz keine Rohstoffe gibt. Die Baumwolle, die hier veredelt und zu exportfähigen Waren verarbeitet wird, kommt aus dem Orient, der Karibik oder aus Nordamerika. Die Rohseide holt man aus Südfrankreich, aus Italien oder noch von weiter her. Die Edelmetalle für die Uhren- und Schmuckindustrie kommen aus Südafrika, Indien oder Amerika.

Trotzdem haben sich hierzulande diese Industrien angesiedelt und international durchgesetzt. Wie konnte das funktionieren?

Die Schweiz ist zwar ein rohstoffarmes Land, aber dieses Land versteht es schon in der frühen Neuzeit, ein Geschäftsmodell zu entwickeln, das bis heute eine wichtige Rolle spielt: Nämlich mit Innovationen und dem Einsatz qualifizierter Arbeit Waren herzustellen, die trotz hohen Entstehungs- und Transportkosten auf dem internationalen Markt Erfolg haben. Der Binnenmarkt ist generell zu klein, und die Seiden-, Uhren- und Schmuckindustrie produziert zudem noch für ein kleines Luxussegment. Man ist also von vornherein nicht nur auf den Import der Rohstoffe, sondern auch auf den Export der Fertig- und Halbfertigprodukte angewiesen. Dafür müssen Strukturen entwickelt werden, die den Handel erleichtern.

Wer treibt diese Verflechtung voran?

Es sind Handelskompanien, die es in Zürich, im Appenzell, in St. Gallen, Schaffhausen, Basel und auch in Genf in relativ grosser Zahl gibt. Migrationsbewegungen spielen ebenfalls eine Rolle. Ludwig XIV, der französische König, schiesst ja ein sensationelles Eigentor, als er die Hugenotten gewissermassen zur Zwangskonversion zwingt und damit viele von ihnen ins Exil drängt, unter anderem in die Schweiz. Unter diesen Hugenotten findet sich eine Pioniergeneration an Unternehmern, unter anderem für die Indienne-Produktion. Indienne sind wasserfeste farbig bedruckte Baumwollstoffe. Die Technik kommt ursprünglich aus Indien, deswegen der Name. Mit der Vertreibung der Hugenotten kommt dann spezifisches Wissen um innovative Produkte in die Schweiz. Vor allem aber nehmen die Hugenotten ihre Geschäftsbücher und damit ihre Geschäftsbeziehungen mit. Sie betreiben dann von Genf, dem Jurasüdfuss, Neuenburg und der Waadt aus ihr Geschäft weiter.

Wie kann dieses internationale Geschäft funktionieren? Schliesslich ist das 18. Jahrhundert ja durch hohe Zölle geprägt.

Das Schweizer Exportgeschäft wird zum Teil unterstützt durch die Tatsache, dass das Corpus helveticum stark von Zoll- und Handelsprivilegien profitiert, die es im Verkehr vor allem mit Frankreich, Spanien und Mailand hat – mit «Corpus helveticum» bezeichne ich den damals losen politischen Verbund auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Die Allianzen mit Spanien und Mailand einerseits sowie mit Frankreich anderseits gehen ins 16. Jahrhundert zurück und haben damit zu tun, dass die Grossmächte der Nachbarschaft immer ein eminentes Interesse gehabt haben, diesen Raum der heutigen Schweiz möglichst eng an sich zu binden.

Warum?

Weil dieses Land mitten in Europa von einem hohen geopolitischen und geostrategischen Wert ist. Es geht um die Alpenübergänge, um das Söldnerreservoir und gewissermassen auch um die Rolle des Neutralen als Zwischenhändler von kriegsrelevanten Materialien. Die Schweiz, die selber nicht direkt in die Kriege involviert ist, hat eine eminente geopolitische Bedeutung. Gerade der König von Frankreich ist seit 1521 bis in die Französische Revolution hinein ein wichtiger Bündnispartner. Durch hohe Investitionen in die Freundschaft mit den Kantonen versucht er, diesen Raum möglichst eng an sich zu binden. Ein Teil der Investitionen sind Handels- und Zollbegünstigungen für Schweizer Kaufleute im Verkehr mit Frankreich.

Es gab also damals schon niedergeschriebene Handelsverträge …

Genau.

… und auch Streitschlichtverfahren?

Ja, es gibt einen frühneuzeitlichen Bilateralismus.

Wie unterscheiden sich die Handelsbeziehungen und Institutionen von den heutigen?

Streitschlichtung erfolgt über Schiedsgerichte, über Ausschüsse und über die Diplomatie. Der französische König hat in Solothurn einen ständigen Botschafter, den «Ambassador» – deswegen nennt sich Solothurn noch heute Ambassadorenstadt. Die Bedeutung, die der französische König dem Corpus helveticum beimisst, zeigt sich daran, dass Solothurn gemeinsam mit Städten wie Rom, London, Neapel, Wien und St. Petersburg firmiert. Der König von Frankreich hat nicht in vielen Ländern einen ständigen Botschafter im höchstmöglichen diplomatischen Rang. Aber er hat einen in Solothurn.

Es ging also bei diesen Handelsverträgen weder um die Maximierung der Zolleinnahmen noch um die Steigerung der nationalen Wohlfahrt, sondern vielmehr um geopolitische Interessenpolitik.

Ja, die Handelsbeziehungen sind Teil eines politisch-diplomatischen Konzepts. Denn bei den Allianzen, die ich vorhin angesprochen habe, geht es nicht nur um Handels- und Zollprivilegien, sondern es geht auch um ein anderes, vielleicht das wichtigste Exportgewerbe der alten Schweiz: den Solddienst. Die Schweiz bietet sich den europäischen Mächten als unversehrtes Söldnerreservoir an. Mit dem Vorteil, dass dieses Gebiet relativ nah an den Schauplätzen der grossen europäischen Kriege liegt. Wenn wir uns anschauen, wo in der frühen Neuzeit die grossen Kriege stattfinden, dann sind das häufig das obere Italien, die Lombardei, Süddeutschland – also Württemberg, Bayern, die Pfalz – sowie das Burgund und Flandern. Das sind alles Gebiete, die nicht so weit von der Schweiz entfernt liegen.

Die Geografie ist somit zentral für die Schweiz.

Es ist die spezielle geopolitische Lage dieses Landes, die durch die Alpenübergänge zusätzliche militärische und politische Bedeutung bekommt. Die Schweiz dient auch als Puffer zwischen den Grossmächten. Mehrere Faktoren kommen damit zusammen, die es dem Land ermöglichen, durch die Bewirtschaftung der kritischen Differenzen zum Umfeld einen Vorteil für sich zu erwirtschaften. Selbstverständlich haben die Städte, die politischen Eliten sowie die Staatskasse der eidgenössischen Orte mehr oder weniger intensiv von dieser Dynamik profitiert. Es gibt Untersuchungen dazu, wie Zürich seine Zolleinnahmen massiv durch den schwunghaften Export von Textilien steigern kann. Zürich finanziert sich im 18. Jahrhundert vermehrt durch Exportzölle auf die exportierten Waren.

Diese hohen Zölle waren für die ausländischen Partner kein Problem?

Nein. Bern alimentiert seine Staatskasse im 18. Jahrhundert nicht zuletzt durch den Ausbau der Kunststrassen, sogenannter Chausseen, die so angelegt werden, dass sie möglichst viel Zwischenhandel anziehen und unterwegs über bernisches Gebiet führen. So konnte an Zollstationen, an Strassen und bei Brücken Zoll auf Waren erhoben werden, die vom süddeutschen Raum nach Frankreich exportiert oder importiert wurden. Die Zolleinnahmen von Bern schnellen als Konsequenz einer Infrastrukturpolitik in die Höhe, die der Kanton mit seinen Strassenverbindungen zwischen Genf, Zürich und St. Gallen als Grossachse ausbaut.

War das Thema Souveränität bei all diesen internationalen Verflechtungen ein Thema?

Es gab damals tatsächlich keine Nation Schweiz im heutigen Sinne. Diese wird immer nur von aussen so wahrgenommen. Die «nation suisse» in Lyon waren beispielsweise die dortigen Schweizer Kaufleute, die einen Kontor hatten und eine Interessenorganisation bildeten, um etwa bei Schwierigkeiten mit Frankreich mit dem Intendanten vor Ort oder dem Finanzminister in Paris verhandeln zu können. Aber im Innern gibt es keine souveräne Nation Schweiz, die gibt es erst ab dem 19. Jahrhundert. Souverän sind allenfalls die einzelnen Kantone.

Dann ist die Schweiz eigentlich zuerst als wirtschaftliches Konstrukt entstanden, nicht als politisches?

Sagen wir es so: Die politische Einheit war zuerst eine aus der Aussenperspektive. Der König von Frankreich hatte immer grosses Interesse daran, alle Kantone mit den zugewandten Gebieten in einer Allianz mit ihm zu integrieren. Deshalb hat diese Beziehung zu Frankreich eine unglaubliche Klammerbeziehung ausgeübt. Stärker jedenfalls, als es die nur losen und konfliktträchtigen Beziehungen zwischen den Kantonen waren. Also die Tatsache, dass man einen gemeinsamen auswärtigen Allianzpartner und dort gemeinsame militärische, sicherheitspolitische und kommerzielle handelspolitische Interessen hatte, hat eine einigende Funktion ausgeübt auf diesen Raum.

Wie wirkt sich der wirtschaftliche Fortschritt auf die politischen Strukturen aus?

Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik stösst auf der politisch-rechtlich-institutionellen Seite auf Strukturen, die eher auf Beharrung und auf Statik angelegt sind. Daraus wird sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein explosives Gemisch entwickeln. Denn es gibt schon damals in politisch-intellektuellen Kreisen Überlegungen, dieses Konglomerat Corpus helveticum in nationaler Hinsicht zu vereinheitlichen. Gewissermassen die kantonalen Strukturen nicht abzuschaffen, sondern mit suprakantonalen, eidgenössischen Einrichtungen zu ergänzen.

Wer stemmt sich aktiv gegen die Veränderung?

Neben den Profiteuren dieser Entwicklung gibt es auch viele Verlierer. Das sind beispielsweise die zünftischen Handwerker in den Städten, die es nicht gerne sehen, dass Angehörige der Machtelite ihrer Stadt – die Verleger und Kaufleute – die Warenproduktion auf dem Land ansiedeln und damit eine Konkurrenz herstellen. Nun sind wir politisch in einer anderen Zeit. Es gibt keine demokratische Mitbestimmung. Die politische Elite ist in der Regel auch die ökonomische. Da die Kaufmannsschicht in Städten wie St. Gallen, Schaffhausen, Basel oder Zürich in den politischen Gremien den Ton angibt, hat sie die Möglichkeit, die Wirtschaftspolitik im Kanton oder in ihrer Stadt auf die eigenen Interessen auszurichten.

Die Zünfte waren also gar nicht so mächtig?

Die sind schon mächtig, aber am Beispiel von Zürich lässt sich schön zeigen, dass die Zünfte teilweise auch unterwandert werden, indem die Familien aus der Kaufmannschaft ihre Söhne in verschiedenen Zünften platzieren. In der Bäcker- oder Schmiedezunft sitzen nicht mehr nur Bäcker und Schmiede, sondern auch die Söhne aus Kaufmannsfamilien. Dazu kommt, dass diese Kaufmannschaften in St. Gallen und in Zürich mit dem sogenannten Kaufmännischen Direktorium eine wichtige Interessensorganisation auf die Beine stellten, die in wirtschaftspolitischen Fragen so etwas wie eine Denkfabrik darstellten.

Können Sie diese politische Struktur noch erläutern?

Es gibt den städtischen Rat, der die Obrigkeit repräsentiert. Daneben gibt es in Städten wie Zürich oder St. Gallen das kaufmännische Direktorium, in dem sich die Kaufleute organisieren. Gleichzeitig sitzen verschiedene Kaufleute im städtischen Rat und können auf der politisch-diplomatischen Ebene die ökonomischen Interessen der Kaufleute einbringen.

Gab es bei diesen Positionen eine gewisse Meritokratie, oder war alles vererbt?

Die Posten waren nicht formal, aber faktisch vererbt. Weil diese Familien teilweise auch die Wahlverfahren so beeinflussen konnten, dass sie es weitgehend in der eigenen Hand hatten, wer bei Vakanzen die freiwerdenden Sitze in den Räten beerbte.

Die Macht verschiebt sich also von den Zünften zu den Kaufleuten, die grundlegenden Strukturen verändern sich aber nicht. Wie wurden diese wirtschaftlichen Umwälzungen in der Gesellschaft aufgenommen?

Die Konfliktlinie verläuft zwischen jenen Bevölkerungsgruppen, die politisch-ökonomisch an den Schalthebeln der Macht sitzen, und dem restlichen Bürgertum. Gerade die erfolgreiche Kaufmannsschicht, die auch die Räte kontrolliert, sieht sich immer mehr mit Forderungen der zurückgesetzten Bürger in ihren Städten konfrontiert. Diese wollen mehr Beteiligung an den Ressourcen, die durch Politik und Handel erwirtschaftet werden.

Diese Konfliktlinie zieht sich durchs ganze Land?

Ja. Wir haben in Basel, Zürich und Bern teilweise recht intensive Protestbewegungen. Am intensivsten wird es nicht von ungefähr in Genf. Genf ist vielleicht die prosperierendste, dynamischste Stadt des schweizerischen Raums. Es ist eine eigenständige, souveräne Republik, die nur mit Bern und Zürich Bündnisbeziehungen unterhält. Weil die Stadt über ein kleines Territorium verfügt, gleichzeitig aber eine prosperierende Wirtschaft vorweist, hat Genf das Problem, dass die Arbeitskräfte von aussen in die Stadt hereingeholt werden müssen. Das heisst, die Bürger sind in Genf schon in den 1720er Jahren eine Minderheit in ihrer eigenen Stadt. Sie haben das strukturelle Problem, dass die politisch und juristisch Teilhabeberechtigten in der Minderheit sind gegenüber den vielen Arbeitskräften, die in der Stadt zwar arbeiten, aber von der wirtschaftlichen Prosperität nur sehr bedingt profitieren. Deswegen kennt Genf im 18. Jahrhundert mindestens vier mehrjährige heftige Protestkrisen, die teilweise nur militärisch und mithilfe von bernischen, französischen und savoyischen Truppen niedergeschlagen werden können. Gerade Genf ist ein gutes Beispiel für den zunehmenden Druck damals, den die Ungleichheit von ökonomischer Prosperität und politischer Partizipation hervorgebracht hat.

Wie gehen die damaligen Eliten mit diesem Druck um?

Gerade die ökonomisch sehr innovativen Schichten versuchen einen Spagat, der langfristig scheitert. Die Eliten müssen im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr erfahren, dass ihre Politik der Verflechtung und Innovation ihre Kosten hat, indem sie Schichten hervorbringt, die nicht im selben Ausmass von dieser Dynamik profitieren. Diese Schichten beginnen zunehmend, eine politische Mitsprache und vor allem auch eine bessere Teilhabe an ökonomischen Ressourcen einzufordern. Die Eliten versuchen, die Situation auszusitzen. Sie werden nie von sich aus aktiv in der Konzipierung von grundsätzlichen politischen Reformen. Diese gelingen erst auf massiven Druck von aussen.

Gibt es noch andere Entwicklungen, beispielsweise technologische, die diese regierende Bürgerschaft verschläft?

Technologisch ist noch nicht viel los. Das Ancien régime ist eine Ökonomie, die mit gewissen Ausnahmen im agrarischen und handwerklichen Bereich technologisch noch nicht sehr innovativ ist. Da muss man das frühe 19. Jahrhundert mit der Mechanisierung und der Fabrikindustrialisierung abwarten. Die Tatsache, dass die Protoindustrialisierung sehr dezentral funktioniert, dass in den Häusern der Heimarbeiter im Zürcher Oberland oder im Toggenburg produziert wird und nur selten zentral in Manufakturen, zeigt deutlich, dass die Technologie noch nicht jenen Stellenwert hat, den sie später erhalten wird. Denn sobald die Technologie sich weiterentwickelt, erfordert die Mechanisierung eine Fabrikindustrie.

Erst im 19. Jahrhundert setzt die Mechanisierung also richtig ein und fordert wegen der Zentralisierung und Urbanisierung eine gewisse Infrastruktur.

Genau.

Wie reagiert die Politik auf diese Umwälzungen?

Da gibt es unterschiedliche Modelle. Aus dieser revolutionären Umbruchszeit geht eine Vielzahl von Verfassungen hervor. Wir haben die nach wie vor traditionellen alten Kantone, wo die restaurativen Tendenzen überwiegen. In diesen Orten sind bis zu den liberalen Bewegungen von 1830/31 kaum Reaktionen zu beobachten. In den neuen Kantonen, die dank Napoleons Gnaden entstehen, sieht die Situation anders aus. Die Mediationskantone St. Gallen, Waadt, Aargau, Thurgau und Tessin haben von Anfang an sehr viel stärker partizipative politische Strukturen errichtet, weil dort Parlamente und liberale Verfassungen existieren. Diese Kantone sind deshalb besser auf die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts vorbereitet.

Haben diese Mediationskantone dank Demokratisierung aktiver auf die wirtschaftlichen und technologischen Umwälzungen reagiert?

Ja, denn diese Kantone – und nach den liberalen Revolutionen natürlich auch weitere Kantone wie Zürich und Bern – haben sehr viel stärker versucht als andere, die politischen Strukturen auf die ökonomischen Erfordernisse abzustimmen. Die Entstehungsgeschichte des Bundesstaates ist ja auch die Geschichte einer Raumbildung, bei der man versucht, die ökonomischen Handlungsräume besser auf die politischen abzustimmen. Da geht es zum Beispiel um die Frage der Abschaffung von Binnenzöllen oder auch um die Vereinheitlichung von Gewichten, Massen und Währungen. Ja, es geht auch um den Ausbau der Infrastruktur. All das sind Integrationsherausforderungen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker stellen.

Wie gelingt damals diese Integration?

Da machen wir eine interessante Beobachtung, die in vielerlei Hinsicht auch mit der aktuellen Situation vergleichbar ist. Die Schweiz tut sich ja enorm schwer mit dem Durchbruch zum Bundesstaat. Wir haben bis in den Sonderbundskrieg hinein viele Kantone, die diese Vereinheitlichung nicht wollen, sondern die mit den Strukturen aus dem Ancien régime zufrieden sind. Auf der anderen Seite stehen jene Kantone, die im Sinne einer nationalen und liberalen Integration dieses Raumes agieren. In dieser Phase, so ab 1815 bis in die 1840er Jahre, nimmt auch die Zahl der interkantonalen Konkordate massiv zu. Wir beobachten, dass auf einer freiwilligen Ebene die Kooperation, die Koordination und die Kommunikation unter den Kantonen stark zunehmen, aber immer nur auf freiwilliger Basis. Es sind mehr oder weniger immer dieselben Kantone, die sich auf solche interkantonalen Konkordate einigen.

Um welche konkreten Themen geht es denn?

Es geht um Infrastrukturthemen wie die Post und um Standardisierung und Vereinheitlichung von Masseinheiten. Und es geht auch um die Niederlassungsfreiheit – das ist ein riesiges Thema. Gewisse Kantone beginnen schon damals, ihren Bürgerinnen und Bürgern gegenseitig Niederlassungs- und Gewerbefreiheit in den anderen Kantonen zuzugestehen. Wenn man sich die Themen anschaut, die in diesen interkantonalen Konkordaten verhandelt werden, stellt man fest, wie der technologische Fortschritt sowie die Kommunikations- und Verkehrsentwicklung die Kantone dazu drängen, sich stärker abzusprechen und miteinander zu koordinieren. Letztlich bahnt dies in vielem den Bundesstaat von 1848 an.

Wie stehen die progressiven Kantone im Vergleich mit dem Ausland da? Können sie als internationale Vorreiter bezeichnet werden?

Nein. Ähnliche Fragen beschäftigen damals auch das europäische Ausland. Deutschland hat in vielem ähnliche politische Strukturen. Im Vorfeld der deutschen Einigung, die erst in den 1870er Jahren kommt, spielt beispielsweise die Zollfrage ebenfalls eine grosse Rolle. Die Gründung des Zollvereins zeigt, wie auch dort die technische und wirtschaftliche Entwicklung auf politischer Ebene Massnahmen erforderlich macht. Andere Staaten sind hingegen in ihrer politischen Integration schon viel weiter und können bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine nationale Politik betreiben. Grossbritannien und Frankreich schlagen sich damals nicht mehr mit solchen Fragen herum. Die sind politisch bereits so weit integriert, dass in Frankreich von Paris aus eine nationale Wirtschafts- und Zollpolitik betrieben werden kann.

Die von vielen Städten geprägten Länder wie Deutschland, die Schweiz und Italien starten mit ihrem föderalen System also nun mit einem Nachteil. Die zentralistischen grossen Staaten um diesen Korridor herum können schneller vorwärts machen.

Ja.

Starten jene Kantone, die lange auf der alten, ständischen Ordnung beharrt haben, mit einem Rückstand?

Ja sicher, diese traditionellen Kantone sehen im 19. Jahrhundert ihre Felle davonschwimmen. Ich habe vorhin vom Solddienst als wichtigstem Exportgewerbe der Schweiz im Ancien régime gesprochen. Dieses Exportgewerbe, also diese militärische Arbeitsmigration, war gerade für die agrarisch-bäuerlichen Kantone der Innerschweiz, für das Wallis und Graubünden immer sehr viel wichtiger als für die Kantone, deren Wirtschaft sich schon in der frühen Neuzeit mit Protoindustrie relativ dynamisch entwickelte. In dem Moment, in dem aus politischen Gründen dieser Solddienst nicht mehr toleriert wird, sehen diese Kantone ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten wegbrechen. Das fordert dann wiederum die dort herrschenden Eliten heraus. Denn die Staats- und Gesellschaftsordnung in jenen Kantonen war letztlich stark darauf ausgerichtet, ihrer Elitenschicht ein standesgemässes Auskommen zu gewährleisten.

Daher der grosse Widerstand.

Genau. So waren die Innerschweizer Kantone auch vehement gegen die politische Gleichberechtigung der Untertanengebiete. Warum das? Weil ein Urner oder Unterwaldner Militärunternehmer, der für den König von Frankreich eine Kompanie oder vielleicht sogar ein Regiment aufstellen kann, in seinem Kanton natürlich nie genügend Männer findet, die er als Soldaten anwerben kann. Der Thurgau oder das Tessin, die Untertanengebiete, waren Werbereservoire für diese Truppen. Kein Wunder, dass sich dann genau diese Kantone auf dem Wiener Kongress 1814/1815 vehement gegen die Anerkennung der Souveränität dieser neuen Kantone wehren. Und zwar so erfolgreich, dass die neuen Kantone Thurgau, Aargau und Tessin den Innerschweizer Kantonen mehr als eine halbe Million Schweizer Franken – gewissermassen als Entschädigung für ihre Unabhängigkeit – bezahlen müssen.

Wie konnten denn diese kleinen Kantone derart grosse Untertanengebiete kontrollieren?

Es ist eine der spannenden Fragen in der Geschichte der alten Schweiz, wie eine relativ schmale Machtelite es geschafft hat, eine zahlenmässig weit überlegene Untertanenschaft zu regieren. Erklärungsfaktoren für dieses Gelingen sind unter anderem, dass die Herrschaft der eidgenössischen Orte über ihre Untertanengebiete relativ milde war im Vergleich zu dem, was ein König von Frankreich oder von Preussen in seinen Untertanengebieten praktiziert hat. Es gab clevere Strategien des Machtverzichts. Im Unterschied zu den französischen, preussischen und anderen Untertanengebieten in Europa wurden hier keine direkten Steuern erhoben. Es gab jedoch viele indirekte Steuern: Zölle, Abgaben und Zins und Zehnt. Ich will es nicht verniedlichen, aber das, was in Frankreich, England und Preussen Protest generierte, nämlich die steigende fiskalische Belastung im 17. und 18. Jahrhundert, das kennt man in der Schweiz nicht – und das nehmen ausländische Reisende immer mit grossem Erstaunen zur Kenntnis.

Brauchen die Schweizer Machteliten denn weniger Mittel?

Ja, ein Teil der Strategie des Machtverzichts beinhaltet auch, darauf zu verzichten, die Bürokratie massiv auszubauen. Man hat keine Repräsentationskosten wie die Höfe von Versailles, Potsdam oder London. Vor allem kann man es sich als neutrales Gemeinwesen leisten, auf die Reform oder Modernisierung des eigenen Militärs zu verzichten. Das finanziert schliesslich der König von Frankreich, denn die bestausgebildeten Truppen sind die in den fremden Diensten. Und die Allianzen mit dem König von Frankreich geben den Orten sogar das Recht, dass wenn sie die Truppen brauchen, sie diese aus Frankreich zurückrufen dürfen. Mit anderen Worten, der französische Steuerzahler bezahlt die Modernisierung des Schweizerischen Wehrwesens im Ancien régime.

Und diese ökonomischen Mechanismen funktionieren zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer weniger.

Ja. Man versteht die Machtverhältnisse im Ancien régime nur, wenn man von der politischen Ökonomie dieser Orte ausgeht. Es ist ein Herrschaftsverhältnis, das zentral darauf angelegt ist, die Subsistenz der Machteliten zu finanzieren. Es gibt dieses berühmte Diktum von Louis XIV., der gesagt haben soll «l’état, c’est moi»; ich übertrage das auf die Schweizer Verhältnisse und sage, dass die regierenden Patriziate in den eidgenössischen Orten gemäss «l’état, c’est nous» gelebt haben. Ihre Staaten dienten dazu, die Eliten zu alimentieren, also diese schmale Schicht jener Familien, die immer in den regierenden Ämtern waren. Wir beobachten seit dem 16. Jahrhundert eine zunehmende soziale Verengung der Machtelite. Es gibt nicht mehr einen grossen Austausch im Vergleich zum Spätmittelalter. Es ist eine sehr, sehr schmale Schicht von bürgerlichen oder landrechtlich privilegierten Familien, die in diesen 13 regierenden Orten der Eidgenossenschaft das Sagen haben. Sie betrachten ihren Staat gewissermassen als einen einzigen grossen Pool an Ressourcen. Diese Ressourcen sind die Pensionen, die aus Frankreich kommen, die Offiziersstellen in fremden Diensten, die Abgaben, die Gebühren und die Einkünfte, die man als Landvogt im Untertanengebiet erwerben kann – denn die Verwaltung finanziert sich ja selber, sie ist so strukturiert, dass ein bernischer Landvogt, der sechs Jahre in einer relativ anständigen Vogtei regiert, sich in dieser Zeit saniert. Er darf in diesen sechs Jahren schliesslich einen bestimmten Teil der Einkünfte für sich behalten. Es ist also eine Ordnung, die letztlich darauf abzielt, ihrer Elitenschicht ein standesgemässes Auskommen zu gewährleisten.

Diese Ordnung wird dann von den Liberalen in Frage gestellt.

Genau, die Liberalen diskreditieren im frühen 19. Jahrhundert den Staat des Ancien régime als Parasitenstaat und verlangen, dass das öffentliche Gemeinwesen nicht länger dazu dienen soll, eine privilegierte Schicht zu alimentieren. Das moderne Staatsbürgerkonzept erfordert, dass der Staat seine Beamten entlohnt, sie aber nicht alimentiert. Zudem soll das meritokratische Prinzip zum Tragen kommen und nicht mehr die Geburt in eine «richtige» Familie über die politische Rolle einer Person bestimmen.

Eine zentrale Forderung in diesem Kontext ist die Reformation des Bildungswesens.

Für die Liberalen im 19. Jahrhundert ist der Ausbau des Schulbereichs eine wichtige, hochrangige Forderung. Der Kanton Aargau bezeichnet sich ja nicht umsonst als Kulturkanton; er nimmt für sich diese Ehre in Anspruch, weil der Kanton in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr viel in den Bildungs- und Schulbereich investiert hat. Wie in anderen Bereichen herrscht auch im Bildungswesen im 19. Jahrhundert starke kantonale Diversität – nicht von ungefähr ist der Schulbereich bis heute in der kantonalen Hoheit.

Gab es gegen die Reformbestrebungen der Liberalen auch Widerstand?

Hier kommt der Einfluss der Kirche ins Spiel. Im Ancien régime hatte die Kirche unglaublich viel Einfluss auf das Schulwesen, das sich damals immer in engster Kooperation und mit Partizipation der kirchlichen Autoritäten entwickelt hat. Die Ausbildung des modernen Schulwesens ist somit auch eine Ausmarchung der Kompetenzen zwischen Staat und Kirche. Nicht zuletzt wird das im Kulturkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch einmal eine Rolle spielen.

Gibt es noch weiteren Widerstand gegen die Modernisierung?

Diese gibt es, wenn auch auf einer wenig spektakulären, eher alltäglichen Ebene. Mein Berner Kollege Heinrich Schmidt hat in den letzten 20 Jahren sehr viel zur Schulgeschichte geforscht. Er zeigt, dass die Einführung eines Schulobligatoriums und die Durchsetzung davon zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Die Durchsetzung der Schulpflicht bis in die hintersten Winkel der Kantone und die tiefste Struktur der Gesellschaft scheiterte lange Zeit an den ökonomischen Erfordernissen eines bäuerlichen oder handwerklichen Alltags. Der Schulbetrieb versuchte vielfach darauf Rücksicht zu nehmen, indem in der arbeitsintensiven Zeit der Unterricht stark zurückgefahren wurde oder überhaupt ruhte, damit die Kinder zuhause auf dem Hof bei der Ernte und der Aussaat und vielem anderen aushelfen konnten. Statistische Untersuchungen weisen im ländlichen Raum einen hohen Prozentsatz an Schulabsenz nach – und zwar bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Wenn sie also nach Widerstand fragen, ist es vor allem eine Frage des passiven Widerstands. Um der Schulpflicht nachzukommen, muss man es sich erst leisten können, auf die Arbeitskraft seiner Kinder zu verzichten. Kinderarbeit ist schliesslich im 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein im agrarischen, ländlichen Bereich eine verbreitete Erscheinung.

Werden bei der Gründung des Bundesstaates 1848 nochmals ganz neue Themen aufgenommen oder einfach die bestehenden Errungenschaften der progressiven Kantone konsolidiert?

Die Themen, die in den Konkordaten eine wichtige Rolle spielten, also Zölle, Standardisierung von Massen, Gewichten und Währungen, die Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit, diese Themen finden sich alle auch wieder prominent in der Verfassung von 1848. Gewissermassen entsteht damals ein früher Wirtschaftsraum – nicht ein EWR, sondern ein «CHWR». Die Konkordate setzten die Themen, aber sie waren nicht in der Lage, diesen qualitativen Sprung herbeizuführen.

Warum nicht?

Der Bundesvertrag von 1815 sah zwar durchaus die Möglichkeit vor, dass die Kantone ihre Zusammenarbeit verstärken können. Doch es waren immer freiwillige Vereinbarungen, und wenn man sich anschaut, welche Kantone dabei waren und welche nicht, dann haben wir vielfach schon die Lagerbildung der Sonderbundskrise vorweggenommen. Es sind die konservativ-katholisch-ländlichen Kantone, die nur ausnahmsweise mitmachen, und es sind die städtischen Mittellandkantone, die stark engagiert sind. Um diese Diskrepanz aufzulösen, bedarf es noch einmal einer kriegerischen Auseinandersetzung. Letztlich wird der gordische Knoten der eidgenössischen Integration mit Gewalt durchtrennt. Die Verlierer werden in diesen Bundesstaat hineingezwungen. Der Bundesstaat hat denn auch in den Verliererkantonen noch Jahrzehnte mit grossen Akzeptanzschwierigkeiten zu kämpfen – obwohl gerade die Vertreter der Verliererkantone in der Kommission, die die Bundesverfassung erarbeitet hat, den Ausschlag für die geniale Lösung des National- und Ständerats geben, dem gleichgestellten Zweikammersystem.

Wie innovativ war die Bundesverfassung von 1848 im historischen Kontext?

Zunächst ist zu sagen, dass es die einzige erfolgreiche liberale Revolution in Europa 1848 ist. Sie findet im Rahmen einer grossen europäischen Revolutionsbewegung statt, so wie auch die liberalen Revolutionen der 1830er Jahre in den Kantonen in einem «window of opportunity» stattfinden, weil die Grossmächte mit sich selber beschäftigt sind und gar nicht intervenieren können, obwohl sie zum Teil gerne möchten.

Waren die gescheiterten Revolutionen im Ausland noch radikaler und sind deshalb gescheitert?

Es geht auch dort um Forderungen wie nationale Einigung, um breite politische Partizipation, die Themen sind eigentlich in Europa vielfach dieselben. Die Revolutionen in Frankreich, in Deutschland und Österreich scheitern aber wegen der militärischen Repression. Nach anfänglichen Erfolgen dieser revolutionären Bewegungen ist die Übermacht der Machthaber schlicht zu stark. Das im Unterschied zur Eidgenossenschaft, die das Glück hat, dass die Grossmächte nicht intervenieren, obwohl sie damit liebäugeln. Denn die Existenz dieses liberal-demokratischen Gebildes mitten in Europa ist den Mächten seit den 1810er, 1820er Jahren ein Dorn im Auge.

Aber die Grossmächte haben mit ihren Entscheidungen im Rahmen des Wiener Kongresses ja erst dieses Gebilde ermöglicht.

Ich denke, sie dachten sich: «Das kriegen wir schon in den Griff, wir haben uns ja als Garantiemächte ein Interventionsrecht vorbehalten». Das Problem war aber, dass die Grossmächte später in den 1820er und 1830er Jahren nicht mit einer Stimme sprachen, sondern divergierende Interessen hatten. Die Schweiz hatte das Glück, mit Grossbritannien einen ganz mächtigen Verbündeten zu haben, der in gewissen kritischen Situationen dafür sorgen konnte, dass Österreich oder Frankreich nicht intervenierten.

Was war der Grund für die schützende Hand Englands?

Das lag an den macht- und geopolitischen Interessen Grossbritanniens. Das Land war immer an dieser Gleichgewichtssituation auf dem europäischen Kontinent interessiert, um sich so den Rücken freizuhalten für die eigene Kolonialpolitik. Es war also eine Befriedung des europäischen Kontinentes im eigenen Interesse, um als globales Empire erfolgreich Weltpolitik betreiben zu können.

Die Schweiz als liberal-demokratisches Gebilde zwischen Grossmächten eingekeilt und unter der schützenden Hand Grossbritanniens – ist die Schweiz ein «Sonderfall»?

Das ist eine kontroverse Diskussion. Jede Entwicklung hat Sonderfall-Aspekte. Aber ich denke schon, dass in vielerlei Hinsicht dieses Corpus helveticum, aber auch die Eidgenossenschaft, Ausnahmecharakter haben. Die Komplexität an politischen Verhältnissen auf kleinstem Raum ist etwas Spezielles, da in Europa spätestens ab der napoleonischen Zeit eine gehörige Flurbereinigung stattfindet. Wenn man die europäischen Landkarten von 1780 mit jenen von 1820 vergleicht, dann gibt es viele eigenständigen Staaten und Herrschaften nicht mehr. Venedig verschwindet, Genua verschwindet und viele andere mehr. Merkwürdigerweise überlebt gerade das komplexeste und komplizierteste Gebilde, das so viel mittelalterliche Strukturen noch kennt, weil es eben in dieser europäischen Friedensarchitektur, die der Wiener Kongress für sich ausdenkt, unentbehrlich ist.

Und wie einzigartig ist die Staatsform der Schweiz?

Ausnahmecharakter hat die Eidgenossenschaft im 19. Jahrhundert und bis 1918 auch durch die Tatsache, dass es eine der wenigen Republiken in Europa ist. Europa ist bis 1918 ein Kontinent der Monarchien. Es ist der erste Weltkrieg, der den Zusammenbruch des monarchischen Modells bringt. Man kann sogar sagen, dass das 19. Jahrhundert ein monarchisches Jahrhundert ist wie noch selten davor. Die Niederlande erfinden sich neu als Monarchie, davor war es eine Republik, und viele andere Staaten, die neu entstehen, erfinden sich als Monarchien – zum Beispiel legt sich Griechenland einen König zu und entscheidet sich gegen eine Republik. Das monarchische Modell ist letztlich das stilprägende und allgemein akzeptierte Regierungsmodell.

Wenn man die spätere wirtschaftliche Entwicklung des Landes anschaut, scheint die Bundesverfassung von 1848 eine gute Antwort auf die damaligen Entwicklungen gewesen zu sein.

Es liegt auf der Hand, dass es in Europa, aber auch global, unterschiedliche Entwicklungen gibt. Die «great divergence» ist so ein Schlüsselwort in der Wirtschafts- und Globalgeschichte geworden. Es geht dabei um die Frage, wie Europa zum Vorreiter im globalen Handel wird und die Weltwirtschaft dominiert. Die Globalgeschichte zeigt nämlich auch, dass Europa im Vergleich zu China oder Indien lange nicht an der Spitze der Entwicklung lag. Der Aufstieg von Europa zur globalen Vormacht ist eine Erscheinung des 18. und 19. Jahrhunderts.

Was sind die Erklärungen dafür?

Ein Punkt, der immer wieder genannt wird, ist die Rivalität von miteinander konkurrierenden Mächten in Europa. Das war ein Faktor, der Dynamik und Innovation durch Konkurrenz antrieb. Man könnte sagen, das Erfolgsmodell Schweiz habe auch ein bisschen damit zu tun, dass die Kantone immer irgendwie auch Rivalen waren. Das sind durchaus Strukturen, die etwas für sich haben, wenn es um den Ideenwettbewerb und den Wettstreit um die besten Lösungen geht.

Wie wichtig war eigentlich Napoleon für das Entstehen der modernen Schweiz?

Er war der Totengräber der Helvetischen Republik. 1798 ist es noch nicht Napoleon, sondern das Direktorium, das die französische Armee auf dem Gebiet der heutigen Schweiz intervenieren lässt. Napoleon ist damals noch in Ägypten unterwegs. Er wird erst 1799 der starke Mann in Frankreich, und 1803 spielt er mit der Mediation eine wirklich wichtige Rolle für die Schweiz. Mediation heisst ja Vermittlung. Napoleon erkennt, dass das Modell Helvetik für die Stabilisierung der Schweiz überhaupt nicht funktioniert. Es hat keine Verwurzelung in der Tradition und ist mit permanentem Widerstand konfrontiert. Napoleon braucht aber Stabilität. Er wird also nicht Mediator aus Sympathie für die Schweiz, sondern aus Eigeninteresse. Das Geniale an Napoleon ist, wie er auf die Schweizer Eigenheiten eingeht. So soll er gesagt haben: «Ich weiss, ihr funktioniert nur auf föderalistischer Basis.» Deshalb gibt Napoleon den Kantonen die Souveränität wieder zurück, aber es gibt keine Untertanengebiete mehr.

Historiker mögen solche «Was wäre, wenn…»-Fragen zwar nicht, aber ich wage es jetzt trotzdem: Was wäre aus der Schweiz geworden, wenn Napoleon nie gelebt hätte?

Nun, letztlich führt auch hier kein Weg daran vorbei, dass dieses Corpus helveticum nur in seiner Verflochtenheit verständlich wird. Europa steht nach der französischen Revolution in Flammen. Es gibt diese massive Reaktion der konservativen Mächte. Der Kontinent erlebt mehrere Koalitionskriege, und es ist eigentlich schon ein Wunder, dass der erste Koalitionskrieg von Frankreich gewonnen wird. Niemand hat damit gerechnet, dass diese im Innern geschwächte revolutionäre Republik diesen Krieg gewinnt. Als dann 1797 Österreich als letzte antifranzösische Macht mit Frankreich Frieden schliesst, ist den Schweizern klar: Jetzt sind wir dran. Jetzt hat Frankreich freie Hand, erfährt keinen Widerstand mehr und wird nun diesen Raum so gestalten, wie es seinen eigenen Interessen entspricht. Das scheitert. Die Helvetische Republik bringt Instabilität, und erst Napoleon stellt die Dinge wieder her. Er ist insofern schon eine Schlüsselfigur für die Schweiz. Zumal er das Land immer noch sehr im Interesse Frankreichs gestaltet. Deswegen befindet der Wiener Kongress 1815: Das darf nie mehr passieren. Eine einzige Macht in Europa darf diesen Raum nicht exklusiv kontrollieren. Deshalb braucht es die Schweiz – man hätte diesen Laden ja auch aufgeben können! Aber nein, die Grossmächte befinden, dass dieser Staat eine Funktion in der europäischen Staatenstruktur hat, oder wie Charles Pictet de Rochemont später einmal erklärt: «Man muss die Schweiz von Europa aus denken.»

Wenn wir nun zurückkehren in die Gegenwart: Welche Lehren sollte die Schweiz aus ihrer Geschichte ziehen?

Wir Historiker sind ja immer etwas zurückhaltend, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Die Geschichte ist immer komplex und einzigartig. Gleichwohl denke ich, dass die Schweiz gut beraten wäre, ihr wirtschaftliches Tun und ihr politisches Handeln nicht zu weit auseinanderdriften zu lassen. Der Kleinstaat Schweiz ist ökonomisch eine Weltmacht, wenn man es pro Kopf der Bevölkerung aufrechnet. Egal ob als Finanzplatz oder als Rohstoffumschlagplatz: Wir spielen ökonomisch in der Champions League. Politisch hingegen verkaufen wir uns als Zwerg. Das passt nicht zusammen.

Wo überall erwachsen aus dieser Diskrepanz Spannungen?

Beispiele sind die Ereignisse rund um das Bankgeheimnis, die nachrichtenlosen Vermögen oder die Anpassung unserer Steuersysteme an die Forderungen der Europäischen Union (EU) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Wir stossen aussenpolitisch immer wieder an Grenzen und reagieren dann unglaublich sensibel darauf. Wir pochen auf unsere Souveränität und Freiheit, wollen alles selber steuern. Dabei sind wir ökonomisch schon seit Jahrhunderten international stark eingebunden. Diese Verflechtung passt schlicht nicht zusammen mit dem Hohelied auf die Souveränität und Unabhängigkeit. Wenn man dieses gleichwohl singt, muss man damit rechnen, dass man immer wieder unter Druck kommt – sei es vonseiten der USA, der EU oder der OECD. Das Hohelied auf die Souveränität, die Unabhängigkeit und die Freiheit taugt vielleicht für Sonntagsreden und Ansprachen am 1. August. Aber in der Regel hat die Schweiz schliesslich immer klein beigegeben. Grund dafür waren ökonomische Zwänge. Man weiss sehr wohl, was auf dem Spiel steht. Unsere wirtschaftliche Verflechtung sichert Arbeitsplätze und begründet unseren Wohlstand. Die Verflechtung wiederum bedingt aber, dass man auch akzeptieren muss, wenn die massgeblichen geopolitischen Rahmenbedingungen von anderen gesetzt werden.

Eine gekürzte Fassung dieses Interviews ist in der Avenir-Suisse-Publikation «Was wäre, wenn… – 13 mögliche Entwicklungen und ihre Konsequenzen für die Schweiz» erschienen. Das Gespräch führte Jürg Müller.

Dr. André Holenstein, Professor für ältere Schweizer Geschichte und vergleichende Regionalgeschichte am Historischen Institut der Universität Bern, ist Autor mehrerer Monografien, u.a. der beiden vielrezensierten Bücher «Mitten in Europa» und «Schweizer Migrationsgeschichte».