Irène Troxler: Das Schlagwort «Wohnungsnot» ist in aller Munde. Allerdings war die Leerwohnungsziffer auch schon tiefer als die heutigen 1,31 Prozent. Wie dramatisch ist die Lage?

Marco Salvi: Wohnungsnot würde ich das nicht nennen. Das dramatisiert die Lage. Es kann sein, dass uns das bevorsteht, aber heute ist es noch nicht so weit. Man sieht einfach, dass die Nachfrage steigt und das Angebot nicht Schritt hält. Aber es gab auch schon viel schlimmere Zeiten.

Wann?

In den 1980er Jahren zum Beispiel. 1988 betrug die Leerwohnungsziffer 0,4 Prozent.

Die Zahlen sind aber nicht erfreulich. Das Beratungsunternehmen Wüest Partner hat errechnet, dass in der Schweiz in drei Jahren über 50’000 Wohnungen fehlen werden.

Gemäss meinen Schätzungen werden in den nächsten Jahren jeweils 10’000 bis 15’000 Wohnungen pro Jahr zu wenig auf den Markt kommen. Das ist viel, aber in den 1950er Jahren fehlten fast 40’000 Wohnungen; zu einem Zeitpunkt, als die Schweiz erst 4,5 Millionen Einwohner hatte. Anteilsmässig war der Mangel damals viel ausgeprägter. Gegenwärtig wächst die Zahl der Haushalte noch schneller als die Bevölkerung. Deswegen ist die Nachfrage nach Wohnungen so hoch. Ein Faktor ist auch, dass die Einkommen gestiegen sind. Man kann sich mehr Wohnraum leisten. Und erstaunlicherweise sind die Mieten in letzter Zeit real gefallen. Die Mietinflation betrug 2022 1,5 Prozent. Alle anderen Konsumentenpreise sind aber um 3,1 Prozent gestiegen. Also haben wir eine relative Verbilligung der Mieten erlebt.

Wie ist das möglich?

In bestehenden Mietverhältnissen können die Vermieter die Mieten nicht nach Belieben erhöhen. Sie dürfen das in der Regel erst tun, wenn der Bund seinen Referenzzinssatz anhebt, und das ist noch nicht passiert. Alle anderen Preise sind mit der Inflation gestiegen. Auch die Miet-Nebenkosten.

Bis jetzt beackert vor allem die Linke das Thema. Einer ihrer Vorschläge ist, den gemeinnützigen Wohnungsbau zu fördern. Was bringt das gegen den Wohnungsmangel?

Die Baugenossenschaften bringen schon etwas: für ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Diese bezahlen um einen Drittel tiefere Mieten als der Rest der Bevölkerung. Das ist ein Vorteil für die Genossenschafter. Für alle anderen bringt der genossenschaftliche Wohnungsbau viele Nachteile.

Welche?

Es gibt einen sogenannten Lock-in-Effekt: Fehlt der Preisanreiz, zieht man nicht mehr aus, wenn man weniger Raum braucht. Für Wohnungssuchende ist das ein Problem, weil der Umschlag an Wohnungen immer niedriger wird. Sie finden nichts und müssen wegziehen, in die Vororte, wo vielleicht grünes Land überbaut werden muss. Es ist ein Problem, das sich immer dann stellt, wenn man so tut, als ob eine Ressource nicht knapp wäre, obwohl sie es ist. Das ist der fundamentale Fehler in der linken Wohnungspolitik. Und den Städten, die ja meist die Eigentümerinnen des genossenschaftlich genutzten Bodens sind, entgehen ganz viele Einnahmen.

Fehlt der Preisanreiz, zieht man nicht mehr aus, wenn man weniger Raum braucht. Für Wohnungssuchende ist das ein Problem. (Wikimedia Commons)

Welche Einnahmen entgehen ihnen?

Der Boden wird im Baurecht abgegeben, zu Preisen, die weit unter dem Marktwert liegen. Somit subventionieren die Städte auch sogenannt «nicht subventionierte» Wohnungen in den Genossenschaften. Dazu kommen vergünstigte Darlehen und andere Mechanismen. Die Stadt hat auf diese Weise weniger Einnahmen und weniger Geld für öffentliche Aufgaben im Gesundheitswesen oder in der Bildung. Dessen muss man sich bewusst sein.

Andrerseits ist es für Personen mit geringen Einkommen besonders schwer, auf dem Markt eine Wohnung zu finden, die sie bezahlen können.

Ja, aber sie finden oft auch keine in einer Genossenschaft. Das ist eine Illusion. Der Wohnungsbau eignet sich schlecht als Instrument der Sozialpolitik. Man sollte das Geld lieber direkt den anspruchsberechtigten Personen zukommen lassen. In den Genossenschaften wären viele gar nicht auf Zuwendungen angewiesen. Es ist auch schwierig, stets die passende Wohnung für das richtige Bedürfnis bereitzustellen. Man möchte ja die Leute nicht aus ihren Wohnungen werfen, wenn sich ihre Familienverhältnisse ändern.

Die Genossenschaften argumentieren gerne mit der sozialen Durchmischung, die sie ermöglichen.

Ich habe das am Beispiel von Zürich untersucht, und das Resultat war ernüchternd. Die Durchmischung ist kaum besser als in normalen Mietverhältnissen. Der genossenschaftliche Wohnungsbau ist ein Thema, mit dem sich die politischen Parteien profilieren wollen. Da geht es hauptsächlich um Privilegien, die man gezielt verteilen kann.

Das Wohnen beschäftigt nun aber auch die FDP. Ihr Ständerat Damian Müller hat den Bundesrat mit einem Vorstoss beauftragt, die Lage am Wohnungsmarkt zu analysieren. Das ergibt nur Sinn, wenn man anschliessend auch Massnahmen ergreifen will.

Ich finde diese Motion überflüssig. Die Ursachen sind längst bekannt, da gibt es keine Mysterien. Das Problem ist: Wir haben eine Ressource, die wir irgendwie verbilligen müssen. Dass dies wegen der Durchmischung und wegen des sozialen Kitts nötig ist, sehe ich auch ein. Die Frage ist aber, ob der Markt das nicht auch kann. Die Wohngemeinschaft ist vermutlich die effizienteste Form der Durchmischung. Man sollte auch damit aufhören, alles, was zum Erhalt von billigen Wohnungen beiträgt, auszumerzen.

Woran denken Sie?

Beispielsweise an lärmige Strassen, an denen es häufig günstige Wohnungen gibt. Wenn Sie überall Tempo-30-Zonen machen, müssen Sie sich nicht wundern, wenn die Wohnungen teurer werden. Damit wird die natürliche Durchmischung der Stadt gestoppt. Die Schweiz hat im internationalen Vergleich heute schon sehr ruhige Städte. Ich finde es amüsant, wenn Frauenfeld über Road-Pricing nachdenkt. Dafür haben wir schlicht zu wenig Stau. Ich bin auch für mehr Lebensqualität, aber wenn wir das flächendeckend anordnen, dann schaffen wir auch gewisse Schlupflöcher ab für Menschen, die wenig verdienen.

Was können liberale Politiker tun?

Sie können die Wähler daran erinnern, dass viele Wohnungen wegen der linken Wohnbaupolitik nicht gebaut wurden. Denken Sie an das Projekt Neugasse in Zürich. Das war ein gutes Projekt mit Hunderten günstigen Wohnungen, das verhindert wurde aus Angst, dass jemand daran verdienen könnte. Das ist die grösste Angst der Linken, obwohl auch die Mieter profitieren würden. Wenn man befürchtet, dass Investoren zu viel verdienen, kann man ja die Grundstückgewinnsteuer erhöhen.

Müsste man nicht auch die Regulierungen reduzieren?

Ja, ein grosses Problem ist die heutige Lärmschutzverordnung, die zu streng ist. Davon werden Tausende geplante Wohnungen blockiert. Man könnte in den Städten auch viel stärker verdichten, wenn deren Regierungen sich nicht wie Monopolisten verhalten würden. Sie verknappen das Angebot bewusst. Einzig mit Arealüberbauungen oder anderen städtebaulichen Instrumenten geben sie dem Investor eine Prämie: Er darf dichter bauen, wenn er beispielsweise einen Architekturwettbewerb macht oder andere Bedingungen erfüllt. Damit verknappen die Städte das Angebot, wie ein Monopolist es tut, um seinen Gewinn zu erhöhen. Würden die Städte generell eine höhere Dichte zulassen, könnten sie etwas weniger genau diktieren, was die Investoren bauen müssen. Sie würden Macht verlieren. Aber die Stadtbevölkerung könnte profitieren, es entstünden mehr und günstigere Wohnungen, und die Läden hätten erst noch mehr Kundschaft.

Sie haben eine Studie zum Genfer Wohnungsmarkt gemacht, der ja besonders ausgetrocknet ist. Was kam dabei heraus?

Genf hat den Wohnungsmarkt als Folge der Wohnungsnot der 1980er Jahre besonders stark reguliert. Der Kanton schreibt genau vor, wie teuer die Mieten nach einem Umbau sein dürfen – eine typische Genferei. Heute hat die Stadt qualitätsmässig den schlechtesten Wohnungsbestand der Schweiz. Wenig überraschend wurde kaum noch in Renovationen investiert. Dafür wurde viel auf der grünen Wiese gebaut. Diese Wohnungen kommen jetzt endlich auf den Markt – mit zwanzig Jahren Verspätung. Die Investoren haben Angst vor Genf, weil es viel zu kompliziert ist, dort etwas umzubauen. Man kann von Genf lernen, wie man es nicht machen sollte.

Warum können sich die politischen Lager nicht auf gewisse Ziele verständigen: etwa auf mehr bauliche Verdichtung in den Städten oder den Abbau von bürokratischen Vorschriften?

Es geht um die Verteidigung von konkreten Interessen. Der Mieterverband hat einen falschen Namen, er müsste eigentlich Altmieterverband heissen. Er vertritt bloss jene Mieter, die schon eine Wohnung haben. Für die neuen Mieter, die jungen und mobilen Leute, interessiert er sich nicht. Diese haben ein Interesse an mehr Wohnungsangeboten und mehr Wechseln. Der Mieterverband möchte aber genau dies verhindern. Jene, die eine Wohnung haben, sollen drinnen bleiben. Deswegen will man immer mehr regulieren. Das führt dazu, dass wir am Ende nur noch Wohneigentum haben. Und wir vergeben uns Chancen.

Beispielsweise?

Wir konnten in den letzten dreissig Jahren im grossen Stil Industrieareale überbauen. Ich frage mich, ob die Behörden das heute noch erlauben würden. Wir sollten in den Städten wieder mehr Wandel zulassen. Man lebt ja auch deswegen gerne in einer Stadt, weil man immer wieder von Veränderungen überrascht wird. Wenn Verkaufsflächen weniger nachgefragt werden, ist das eine Chance für Neues. Vielleicht entstehen in den geschlossenen Läden künftig Büros und in den Büroräumen Wohnungen.

Gibt es eine Stadt, die es punkto Wohnungspolitik besser macht als Schweizer Städte?

Wollen Sie wissen, wo es keine Wohnungsnot gibt? In Japan. Japan hat sehr flexible Bauzonen. Wenn man einmal eine Bewilligung hat für eine Industrienutzung, darf man dort auch Büros einrichten oder Wohnungen. Die Nutzung darf einfach nicht störender sein als die ursprünglich bewilligte. In Europa gibt es für jede Nutzung eine Zone. Deswegen haben wir hier viel zu viele Gewerbeflächen. Sogar in der Agglomeration Tokio, die immer noch wächst, sind die Immobilienpreise für Wohnungen seit dreissig Jahren stabil.

Dieses Interview ist am 15. März in der NZZ erschienen.