Die Empirie gibt keine klaren Rückschlüsse darauf, ob die direkte Demokratie einem schlanken Staat und freien Markt zu- oder abträglich ist.
Der direkten Demokratie wird gerne nachgesagt, sie helfe, den Staat schlank zu halten. Das scheint intuitiv naheliegend: Je stärker die Stimme des Bürgers, desto besser seine Möglichkeiten, sich gegen eine übermässige Einmischung des Staates zu wehren oder diesen von, seiner Meinung nach, fehlgeleiteten Ausgaben oder Aktivitäten abzuhalten. Im benachbarten Ausland wurde der Ruf nach einer stärkeren direktdemokratischen Einbindung der Stimmbürger immer dann besonders laut, wenn staatliche Investitionsvorhaben anstanden oder aus dem Ruder liefen (z.B. Stuttgart 21 oder in den 1980er-Jahren der vergebliche Widerstand der Österreicher gegen den Bau des Wiener Kongresszentrums).
Marktkritische Initiativen und Referenden
Lässt sich diese Intuition für die Schweiz mit Fakten erhärten? Eine Analyse der Parolen, die die wichtigsten wirtschaftsnahen Verbände (Economiesuisse, Schweizerischer Gewerbeverband, Schweizerischer Arbeitgeberverband) sowie die FDP für Volksinitiativen und fakultative Referenden fassen, erlaubt ein Urteil darüber, wie marktfreundlich das Ergreifen dieser Bürgerrechte normalerweise ist. Das Ergebnis ist erst einmal ernüchternd:
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren von den 135 zur Abstimmung gelangten, wirtschaftsrelevanten Volksinitiativen gemäss Urteil der genannten Akteure nur deren drei marktfreundlich, und davon wurde nur eine, nämlich der Beitritt zur Uno (2002) in der Volksabstimmung angenommen. Die anderen beiden – die Schwächung des Verbandsbeschwerderechts (2008) und die «Heranziehung der öffentlichen Unternehmungen zu einem Beitrag an die Kosten der Landesverteidigung» (1951) – wurden wuchtig abgelehnt. Die restlichen 132 Initiativen wurden allesamt gegen die Interessen der Wirtschaft ergriffen und 93 davon mit Ja-Parolen von SP, Grüne und/oder Gewerkschaftsbund unterstützt. Bei den fakultativen Referenden sieht es nicht viel besser aus: Von 83 wirtschaftsrelevanten Referenden wurden 72 gegen die Interessen der Wirtschaft ergriffen (vgl. Abbildung).
Die Volksrechte werden in der Schweiz also fast immer in marktkritischer Absicht ergriffen. Bis zu einem gewissen Grad ist das wohl darauf zurückzuführen, dass der Bundesrat und das Parlament lange Zeit bürgerlich-liberal dominiert waren, womit die Interventionen des Volks, welches im schweizerischen System der Konkordanzregierung naturgemäss die Rolle einer Opposition innehat, fast gezwungenermassen eher links oder protektionistisch orientiert waren. Ebenso legen diese Zahlen die Interpretation nahe, dass «die Wirtschaft» ihre Interessen schon im parlamentarischen Prozess genügend einbringen kann und deshalb nicht auf das Instrument Volksinitiative angewiesen ist.
Die Wirkung von Abstimmungsergebnissen
Die These, es sei in erster Linie das Stimmvolk, das durch seine Interventionen den Staat schlank halte, und unnötige oder gar schädliche Regulierungen verhindere, erhält damit einen Dämpfer. Trotzdem ist es möglich, dass die direkte Demokratie in ihrer Gesamtheit diesem Ziel ebenso gut oder gar besser dient als eine repräsentative Demokratie: Immerhin zeigen sich die Stimmbürger in den Abstimmungen durchaus marktfreundlich. Von den 132 marktkritischen Volksinitiativen seit 1946 wurden bloss 10 angenommen. Bei den fakultativen Referenden entschieden sie in 55 von 83 Fällen marktfreundlich. Durchaus vorstellbar, dass etatistische Vorstösse, wenn sie ausschiesslich über das Parlament eingebracht werden könnten, in diesem schneller Mehrheiten finden würden als in Volksabstimmungen. In einigen Fällen führt also die direktdemokratische Mitwirkung des Stimmvolkes zu Ergebnissen, an denen liberal gesinnte Bürger keine Freude haben, in allen anderen Fällen wird aber immerhin ein grundsätzlich liberales Anliegen – z.B. kein flächendeckender Mindestlohn, kein Ausbau des gesetzlichen Ferienanspruches, keine Zentralisierung kantonaler Steuerkompetenzen (Vorschriften zu Mindeststeuersätzen, Erbschaftssteuern) – explizit durch das Stimmvolk legitimiert, was der Wahrung eines freiheitlichen Grundkonsenses dienlich sein dürfte.
Allerdings darf nicht ignoriert werden, dass auch abgelehnte oder gar nicht erst zur Abstimmung gelangte Volksinitiativen (über Provozierung eines Gegenvorschlags) eine Wirkung erzielen oder (wenn sie nicht allzu wuchtig verworfen wurden) den politischen Konsens zumindest mittelfristig verschieben können.
Direkte Demokratie und Dezentralisierung
Welcher der genannten Effekte letztlich überwiegt, ist schwer zu ermitteln. Die wissenschaftliche Literatur zeigt mehrheitlich einen dämpfenden Einfluss der direkten Demokratie auf die Staatsausgaben. Werden in der Analyse aber weitere institutionelle Aspekte und die Bürgerpräferenzen berücksichtigt, schwindet der Effekt auf unbedeutendes Niveau. Zudem wurden fast all diese Untersuchungen auf Ebene der Gliedstaaten durchgeführt. Aufschlussreiche empirische Vergleiche auf Ebene des Zentralstaates sind kaum möglich. Wichtig dürfte in jedem Fall das Zusammenspiel von direkter Demokratie mit fiskalischer Dezentralisierung und Wettbewerbsföderalismus sein. Ob ein Zentralstaat wie Frankreich eine direkte Demokratie à la Schweiz vertragen würde, darf deshalb bezweifelt werden.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie in der Publikation «Die Volksinitiative».