Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise wachsen bei vielen Menschen die Zweifel an der freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung. Sie rufen immer lauter nach einem Staat, der die Härten der freien Marktwirtschaft abfedern, Krisen verhindern und für ökonomischen und sozialen Ausgleich sorgen soll. Die Idee der Freiheit wird zunehmend in Frage gestellt. Mit diesem Phänomen setzte sich Gerhard Schwarz am 3. Februar in einem Referat am Gottlieb-Duttweiler-Institut auseinander; ein Auszug daraus erschien am 3. März 2012 in der NZZ. Der erste Teil dieses (für das Web leicht redigierten) Referats gibt Antwort auf die Frage: Was bedeutet Freiheit eigentlich?

Freiheit bedeutet Freiheit von Zwang durch andere Menschen, nicht von den Zwängen der Natur

Während der weitverbreitete sozialistisch inspirierte Freiheitsbegriff nach der «Freiheit wozu?» fragt, definiert der klassische Liberalismus Freiheit «negativ», nämlich als Abwesenheit von willkürlichem Zwang durch andere. Seine Frage lautet: «Freiheit wovon?» Der Liberalismus verlangt also, dass niemand von anderen Menschen in seinen Anstrengungen behindert wird – und vom Staat nur in möglichst geringem Masse –, er erwartet aber nicht, dass die Gemeinschaft oder der Staat Güter und Dienste bereitstellt.

Diese Freiheit kann in den Worten von Friedrich August von Hayek, dem grossen österreichischen Sozialphilosophen, also durchaus bedeuten, «zu hungern, kostspielige Irrtümer zu begehen oder gewaltige Risiken einzugehen». Freiheit heisst, dass die Zwänge der Natur, der Knappheit und damit der Ökonomie bestehen. Eine freiheitliche Ordnung ist kein Schlaraffenland, in dem alles im Überfluss – oder nur schon zur Genüge – vorhanden ist.

Die Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze an der Freiheit der Anderen

Freiheit heisst auch nicht, dass man tun und lassen kann, was man will, und keinerlei Rücksicht auf andere nehmen muss. Es gilt die Aussage von John Stuart Mill: «Die Freiheit des Einzelnen hört da auf, wo die Freiheit des Anderen anfängt.» Eine freiheitliche Ordnung gewährt allen die gleichen grösstmöglichen Freiräume und schützt gleichzeitig alle vor Eingriffen von anderen.

Die Menschen führen ihr Leben in Selbstverantwortung und haften für ihre Entscheide

Dieses Verständnis einer freiheitlichen Ordnung wurzelt in einem liberalen Menschen- und Gesellschaftsbild. Die Menschen haben aus liberaler Sicht die moralische Pflicht, für sich und für ihre Nächsten zu sorgen. Ihr Leben ist ihnen in die Hand gegeben, als Auftrag und Verpflichtung. Sie selbst tragen dafür Verantwortung, nicht die Mitmenschen, nicht die Gesellschaft.

Dieses Menschenbild fordert allerdings keineswegs, dass die Menschen ihre Eigenverantwortung egoistisch, rücksichtslos oder sogar missbräuchlich wahrnehmen. Wichtig ist, wie Wilhelm Röpke schrieb, die Verwurzelung der Menschen in Werten, die «jenseits von Angebot und Nachfrage» produziert werden. Der Markt und der freiwillige Tausch waren nie die einzigen Quellen der Moral; Menschen lernen vor allem durch die Eltern, die Familie, die Schule und – soweit noch präsent – die Kirchen. Eine freiheitliche Ordnung soll Raum schaffen, damit Menschen ihre individuellen Vorstellungen vom «Gutsein» leben können. Menschen, die ihre eigenen Ziele verfolgen, aber dabei die von den — legitimen — Interessen der anderen gesetzten Grenzen beachten, kommen mit weniger gesetzlichen Regeln aus. Deshalb gehören Freiheit und Selbstverantwortung zusammen.

Die Selbstverantwortung bedingt aber auch das zutiefst liberale Prinzip der Haftung. Jeder soll so weit wie möglich die Früchte seines Tuns ernten können, er soll aber auch für Fehlentscheide, für die Folgen ungenügender Anstrengung und erst recht für eigentliche Fehltritte die Konsequenzen tragen.

Die Gesellschaft ist keine handelnde Person, sondern ein Netz von Beziehungen zwischen Individuen

Das Individuum ist im liberalen Verständnis Ausgangspunkt aller Erkenntnis und allen Wollens. So ist die von vielen als provokativ empfundene Aussage von Margaret Thatcher zu verstehen: «There is no such thing as society.» Natürlich sind die Menschen soziale Wesen, aber die Gesellschaft ist keine handelnde Person, sondern ein Netz von freiwilligen Beziehungen zwischen Individuen. Diese Gesellschaft lässt sich nur von den Individuen her verstehen. Daraus leiten sich die tragenden Pfeiler einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ab: Selbstverantwortung, Privateigentum und Wettbewerb.

Zum freiheitlichen Gesellschaftsbild gehört ferner die Skepsis gegenüber der «Anmassung des Wissens», die Hayek kritisierte. Der Einzelne verfügt nur über einen Bruchteil des gesamten menschlichen Wissens, und dieses Wissen der unzähligen Individuen lässt sich nicht zentral zusammenfassen. Anders ausgedrückt: Wirtschaft und Gesellschaft sind so kompliziert, dass nur ihr «Konstrukteur» sie verstehen könnte. Diesen Baumeister der Gesellschaft gibt es jedoch unter den Menschen genauso wenig wie den überragenden, alles begreifenden Intellekt. Das bedeutet: Wer immer in Wirtschaft und Gesellschaft eingreift, erreicht bei allen guten Absichten oft genau das Gegenteil.