Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise wachsen die Zweifel an der freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung bei vielen Menschen. Sie rufen immer lauter nach einem Staat, der die Härten der freien Marktwirtschaft abfedern, Krisen verhindern und für ökonomischen und sozialen Ausgleich sorgen soll. Die Idee der Freiheit wird zunehmend in Frage gestellt. Mit diesem Phänomen setzte sich Gerhard Schwarz am 3. Februar in einem Referat am Gottlieb-Duttweiler-Institut auseinander; ein Auszug daraus erschien am 3. März 2012 in der NZZ. Der vierte Teil dieses (für das Web geringfügig redigierten) Referats gibt Antworten auf die Frage: Weshalb wählen viele Menschen die Unfreiheit, statt für ihre Freiheit zu kämpfen?
Noch mehr als mit dem Marketing hat der ungenügende Verkaufserfolg des Liberalismus mit dem Produkt selbst zu tun, also mit einigen strukturellen Schwächen des Liberalismus.
Wer das Produkt selbst betrachtet, also die eigentliche Freiheitsidee, erkennt Charakteristika, die es ihm auf dem Markt der Ideen schwer machen, und zwar jenseits der gegenwärtigen Empörungskultur über Kapitalismus, Banker und Gier. Die freiheitliche Gesellschaftsordnung ist, abgesehen von historischen und geographischen Ausnahmesituationen, strukturell kaum mehrheitsfähig. Eine liberale Ordnung, die auf Selbstverantwortung, Wettbewerb und Privateigentum beruht, käme zwar allen Schichten und Menschen zugute, aber die Einsicht in diese Tatsache ist sowohl intellektuell als auch, erst recht, emotional schwierig.
Was sind die Zugangs- bzw. Verkaufsbarrieren?
1. Im Alltag werden Freiheit und Selbstverantwortung oft als unbequem empfunden
«Die Qual der Wahl», «sich entscheiden müssen» – unsere Redewendungen verraten, dass das, was der Liberalismus als Lust versteht, von vielen Menschen, wohl einer grossen Mehrheit, eher als Last empfunden wird. Vielmehr streben viele Menschen danach, dass andere Personen, der Staat oder transzendentale Kräfte für sie die Rolle der Eltern übernehmen und ihnen Entscheidungen abnehmen – eine Haltung, die Nobelpreisträger James M. Buchanan als «Parentalismus» bezeichnet.
2. Das liberale Denken ist mehr auf Risiko und Innovation als auf Erhalt des Erreichten ausgerichtet
Aus seiner Langfristigkeit heraus akzeptiert der Liberalismus relativ starke Schwankungen um einen (Wachstums-)Pfad herum und auch die vorübergehend oft schmerzhaften Auswirkungen von Reformen und Transformationen. Damit macht er sich alle vermutlichen und potenziellen Verlierer zu Gegnern. Verschärft wird dies durch die Asymmetrie des Sicherheitsdenkens. Wer viel erreicht hat, will dies sichern und scheut das Risiko. Das dürfte mit ein Grund sein, warum gerade in reichen Ländern das Verständnis für die liberale Ordnung schwächelt.
3. Der Wettbewerb gilt nicht als segensreiche Einrichtung, sondern als gnadenloser Kampf aller gegen alle
Dabei ist das viel treffendere Bild als jenes des Kampfes – des «Catch-as-catch-can» – das Bild des Wettlaufs. Wenn jeder sich anstrengt, sich bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit verausgabt, kann es Spitzenleistungen geben – ohne dass man sich gegenseitig schadet. Wettbewerb ist höchstens in fehlgeleiteten, eher seltenen Situationen ein Nullsummenspiel. Normalerweise profitieren alle vom Wettbewerb, weil er alle leistungsfähiger macht.
4. Die freiheitliche Ordnung propagiert nicht Ergebnisse, sondern Regeln, deshalb wirkt sie abstrakt und theoretisch
Damit ist sie zwar alles andere als eine regelfreie Gesellschaft. Aber mit ihren einfachen, allgemeingültigen Grundsätzen sorgt sie für das friedliche Zusammenleben (Regelgerechtigkeit) und nicht für inhaltliche Ergebnisse (Ergebnisgerechtigkeit), etwa eine gleichmässige Einkommensverteilung, die eine Mehrheit als gerecht empfindet. Sie ermöglicht Aufstieg und bestraft Misserfolg mit wirtschaftlichem Abstieg. Das scheinen viele Menschen nicht oder nur schlecht aushalten zu können.
5. In einer freiheitlichen Gesellschaft dürfte es mehr Unbefriedigendes und Unperfektes geben, als das dem menschlichen Hang zum Steuern, zum Machen und zur Perfektion entspricht
Wenn es fast allen gleich schlecht geht, ist eine solche Ordnung ein Versprechen für alle, und solange alle reicher werden, nur einige etwas schneller, stört das niemanden. Je mehr man hat, desto mehr zählt dagegen die Sicherheit, und wenn die Dynamik nachlässt, werden die Unterschiede wohl stärker empfunden. So ist es den Gegnern der Freiheit zunehmend gelungen, ökonomische Gleichheit als Gerechtigkeit zu «verkaufen». Das war so erfolgreich, dass man kaum mehr Liberale findet, die klarmachen, dass Freiheit und Gleichheit Antagonismen sind und dass man Freiheit nur um den Preis der Ungleichheit beziehungsweise Gleichheit nur um den Preis der Unfreiheit haben kann.
6. Der Liberalismus kann und will auf die zutiefst menschliche Suche nach den letzten Dingen keine Antwort geben
Die Sehnsucht nach vorgegebenen Werten, also nach moralischem Halt, scheint gerade derzeit besonders ausgeprägt. Das Wertedefizit des Liberalismus – abgesehen vom Wert der Freiheit – liesse sich zumindest teilweise beheben, indem Liberale deutlich machten, für welche Werte sie selbst die Freiräume einer liberalen Gesellschaft nutzen möchten, nicht als Zwang, sondern als Angebot.
7. Die Vertreter der Freiheit haben keine einfachen Rezepte anzubieten
Das biologische, evolutive Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft, die Überzeugung, dass es sich dabei nicht nur um komplizierte, sondern um äusserst komplexe Systeme handelt, die daraus fliessende intellektuelle Bescheidenheit – all das steht dem Machbarkeitsglauben der meisten Menschen entgegen. Die Einsicht, dass gerade Wirtschaft und Gesellschaft schwer verständliche und praktisch nicht prognostizierbare Gebilde sind, bedeutet nicht, dass wir gar nichts über sie wissen. Sie bedeutet nur, dass wir nicht genug wissen, um sie wie Maschinen steuern zu können. Nur: Politiker, die ihren Wählern sagen, dass man nicht viel machen könne, haben es schwer, populär zu werden. Wer aber Ja sagt zum Liberalismus, muss auch Ja sagen zu seiner Schwäche im demokratischen Prozess.
Die freiheitliche Ordnung kann wieder an Akzeptanz gewinnen
Die Einsicht, dass die Liberalen ein «unbequemes» und eben kein mehrheitsfähiges Produkt zu verkaufen haben, sollte nicht zu Verzagtheit führen. Solcher Realismus ist nicht Ausdruck von Resignation, sondern hilft im Gegenteil, sich illusionslos für eine als gut befundene Sache einzusetzen. Das Produkt lässt sich nicht grundsätzlich verbessern, es ist ein gutes Produkt. Die liberale Ordnung trägt von allen halbwegs realistischen Gesellschaftsordnungen dem «Normalmenschen» am besten Rechnung. Sie funktioniert unter den Bedingungen des Durchschnitts und verlangt weder den Übermenschen noch ein besonderes gesellschaftliches Bewusstsein oder ein ethisches Mindestniveau. Statt die Schwächen der Menschen überwinden zu wollen, spannt die Freiheit diese Schwächen vor den Karren des Gemeinwohls. Wenn man sich wirklich der Freiheit verpflichtet, wird es mit der Zeit nach Theorie und Erfahrung allen in einer Gesellschaft besser gehen, wenn auch der Weg dorthin eine holprige Strasse ist.
Vielleicht gewinnt die Wertschätzung der Freiheit so wieder die Oberhand: wenn erkannt wird, dass ohne Anstrengungen zur Steigerung des Wohlstands langsam, aber sicher auch der vermeintlich sichere Besitzstand gefährdet ist, wenn wesentliche Aspekte der Freiheit wie Haftung und Selbstverantwortung wieder gelebt werden und wenn sich der Wert der Freiheit über das rein Ökonomische hinaus zeigt.