Während der Strom längst keine nationalen Grenzen mehr kennt und kreuz und quer durch alle Länder Europas fliesst, liege der Fokus in der Energiepolitik immer noch zu sehr auf dem Inland, eröffnete Andreas Wenger, Professor an der ETH und Leiter des CSS, das abendliche Gespräch. Die Folgen dieser nationalen Orientierung seien fehlende Kooperation, aber auch Marktverzerrungen durch nationale Sonderzüge in der Energiepolitik. Dies hätte bislang einen effizienten europäischen Energie-Binnenmarkt verhindert, begründete Oliver Koch von der Generaldirektion Energie der EU-Kommission die Ziele der EU: Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit. «Die Herausforderungen liegen aber nicht nur innerhalb Europas, gerade die Versorgungssicherheit ist eine globale Herausforderung», ergänzte Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die Schiefergasrevolution habe die Energiepreise in den USA stark verbilligt und stelle die europäische Energiepolitik vor eine neue Ausgangslage.
Weniger Nachhaltigkeit, mehr Wirtschaftlichkeit
«Die bisherige Energiepolitik der EU ist vom Ziel ehrgeiziger Emissionsreduktionen bestimmt gewesen, künftig werden aber die Wirtschaftlichkeit und die Versorgungssicherheit wieder wichtiger werden»: Oliver Geden wies auch auf den Zielkonflikt zwischen den drei grossen Zielen in der Energiepolitik hin: Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit können nicht alle drei mit gleich hoher Priorität verfolgt werden. Er zweifelt daran, dass die nächste Klimakonferenz 2015 zu verbindlichen Zielen führen werde. Europa, das seine Klimaziele zwar nahezu erreicht habe, aber nach wie vor in der Wirtschafts- und Schuldenkrise stecke, werde seine eigene Vorreiterrolle zunehmend in Frage stellen, zumindest solange die USA und China in der Klimapolitik nicht auch verbindlich mitziehen. Er wies auch auf den Konflikt innerhalb der EU-Länder hin, etwa dass die osteuropäischen Länder mehr Wert auf Wirtschaftlichkeit legten, während Deutschland ehrgeizige Klimaziele verfolge.
Nicht ganz einverstanden zeigte sich Oliver Koch mit der Aussage Oliver Gedens, dass der Fokus in den vergangenen Jahren vor allem auf dem Klimaziel gelegen habe. Das gelte wohl für einzelne Länder, besonders für Deutschland, die EU-Energiepolitik ziele aber auf mehr Wettbewerb und den Abbau von Monopolen. Die nationalen Förderprogramme zugunsten einzelner Technologien, im Falle Deutschlands besonders der Photovoltaik, hätten zu Markverzerrungen zulasten der Nachbarn geführt. Mehr als mahnen könne die EU aber nicht, denn sie greife nicht in die nationale Energieproduktion ein und bevorzuge auch keine Technologie.
Harmonisierte EU-Energiepolitik
Oliver Koch kam mit einem klaren Ziel nach Zürich: «Ich will, dass die EU-Energiepolitik verstanden wird». Ende 2014 werde der EU-Binnenmarkt harmonisiert, das konfrontiere die Schweiz mit einem Systemwechsel, denn gemäss heutigem Stand würde die Schweiz nicht am europäischen Energie-Binnenmarkt teilnehmen. Die bisher lose Kooperation müsse durch einen institutionellen Rahmen ersetzt werden, denn Versorgungssicherheit gebe es nur im Verbund mit Europa. Der wachsende Anteil erneuerbarer Energie im europäischen Strom-Mix habe die Planungsunsicherheit erhöht und stelle eine grosse Herausforderung für den grenzüberschreitenden Handel dar, da Wind- und Sonnenenergie weit weniger konstant fliessen würden als Strom aus Atom- oder Gaskraftwerken.
Die Planungssicherheit hat abgenommen
Dass Energiepolitik keine rein nationale Sache sei, bestätigte auch Matthias Gysler, der Chefökonom beim Bundesamt für Energie. Man sei sich mit der EU über das Stromabkommen in den technischen Belangen weitgehend einig, offen seien letztlich die institutionellen Fragen, wo es um Verhandlungen über die automatische Übernahme von EU-Recht und die anzuwendende Gerichtsbarkeit gehe.
Urs Meister, Energieexperte bei Avenir Suisse betonte, dass es bei der Harmonisierung von Marktregeln in erster Linie darum gehen müsse, Externalitäten im eng vernetzten europäischen Strommarkt zu reduzieren und den Handel zu vereinfachen. Das allerdings heisse nicht, dass man dieselben Fehler machen müsse wie die Nachbarländer, etwa in Bezug auf die Förderung erneuerbarer Energien. Diese würde nämlich zu immer grösseren Verzerrungen, geringerer Planungssicherheit und fehlenden Investitionsanreizen bei konventionellen Kraftwerken führen.
Angesichts eines womöglich bald anstehenden Referendums über das Stromabkommen mit der EU dürfte das Thema brisant bleiben, nicht nur für Energiespezialisten.