Wenig andere nationale Themen haben dieses Jahr in Politik und Wirtschaft so hohe Wellen geworfen wie die Diskussionen um die Neuausrichtung der Energiepolitik in der Schweiz. Dabei geht es nicht nur um technologische und finanzwirtschaftliche Fragestellungen. Genauso werden gesellschaftspolitische Neuausrichtungen zur Debatte stehen, wie etwa Änderungen tradierter Verhaltens- und Konsummuster im Alltag. Dass dabei dem Erhalt des Wirtschaftsstandorts Schweiz hohe Priorität zukommen muss, war einer der wenigen gemeinsamen Nenner der diversen Beiträge an der Lilienberg-Tagung.
Im Frühjahr hat der Bundesrat die Entwürfe zur Neuausrichtung in der Energiepolitik in die Vernehmlassung geschickt. Deshalb war es folgerichtig, dass an der Tagung vom 30. Oktober die Politik das erste Wort hatte. Der Thurgauer SVP-Ständerat Roland Eberle, der als Vertreter seines Kantons auch im Verwaltungsrat der Axpo AG sitzt, stellte zwei Elemente in den Vordergrund seiner Überlegungen. Zum ersten: Nur eine sachliche Diskussion bringt die Schweiz in der Energie-Diskussion weiter: Ohne Kompromisse wird es nicht gehen. Zum zweiten: Werden die Bürgerinnen und Bürger in dieser Sache ernst genommen? Nach Ansicht von Roland Eberle sind wichtige Punkte noch ungeklärt: Bedeutet der Ausstieg aus der Kernenergie den «Wiedereinstieg» bei den fossilen Brennstoffen? Bedeutet der Netzausbau als Folge der verstärkt dezentralen Energieerzeugung einen Eingriff in Eigentumsrechte? Und, falls der Ausstieg aus der Kernenergie Tatsache werden sollte: Ist dann sichergestellt, dass die Forschung auf diesem Gebiet weiter betrieben werden kann? Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch weisen eine hohe Korrelation auf. Das eine vom anderen zu entkoppeln, ist bisher laut Eberle nicht gelungen. Ebenso wenig werde sich die Schweiz gesellschaftlichen und ökonomischen Megatrends entziehen können, auch wenn diese den Energiekonsum steigern (Beispiel: Informations- und Kommunikationstechnologie). Die Analysephase sei zu kurz geraten, «es müssen hinreichend Grundlagen für weitere Beschlüsse vorliegen – und das Vertrauen auf das Füllhorn der Energie-Erzeuger zur Finanzierung der Energie-Wende ist trügerisch.»
Von der Mehrwertsteuer zur Energiesteuer?
Als zweiter Referent hielt GLP-Nationalrat Martin Bäumle ein flammendes Plädoyer für die geplante Energiewende. Der Fokus müsse dabei auf die Erbringung von Wertschöpfung im Inland gelegt werden. «Die Schweiz gibt jährlich über 10 Mrd. Fr. für den Einkauf von Erdöl und -gas im Ausland aus; diese Summe gilt es zu reduzieren.» Beim Ausstieg aus der Kernenergie sei ein Zeithorizont 2035-2045 anzustreben, was der Wirtschaft genügend Zeit für Umstellungen und Investitionen einräume, so der Präsident der Grünliberalen Partei der Schweiz. Die 2000-Watt Gesellschaft sei im Übrigen für die Schweiz auch mit diesem Zeithorizont nicht erreichbar. Realistischer seien 3000 bis 4000 Watt. Viel wichtiger sei indes der Übergang zu erneuerbaren Energien. Ein bedeutender Schritt dazu ist für Bäumle der Wechsel von der Mehrwertsteuer zu einer Energiesteuer, womit die verwendeten Ressourcen und nicht der Mehrwert besteuert würden: «Diese Besteuerung wird auch in Europa ein Thema.» Bemessungsgrundlage müssen die Kilowattstunde Primärenergie sein, beim Energieexport würde die Steuer zurückerstattet, und die Steuer dürfe keine Erhöhung der Staatseinnahmen und -ausgaben zur Folge haben, sei mithin fiskal- und staatsquotenneutral. Die Konsumenten könnten ihre eigene Steuerbelastung via ihren Energieverbrauch beeinflussen. Der Steuersatz sei so festzulegen, dass der Steuerertrag einem festen Prozentsatz des Bruttoinlandprodukts entspreche und sei periodisch anzupassen. Durch den Wegfall der Mehrwertsteuer sei die Reform wirtschaftsfreundlich und sozialverträglich.
Der Weg zur «sauberen Energie»
Sukkurs erhielt Martin Bäumle von Nick Beglinger, Präsident von swisscleantech, einem Wirtschaftsverband von mehr als 300 Firmenmitgliedern und gut 20 Verbandsmitgliedern, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Schweiz zu einer Vorreiterin auf dem Gebiet nachhaltigen Umgangs mit Energie-Ressourcen zu machen. Nick Beglinger zeigte sich überzeugt davon, dass die Stromproduktion bis im Jahr 2050 zu 100% auf «erneuerbar» umgestellt werden kann und dass ein Energie-Eigenversorgungsgrad von mindestens 70% erreicht werden muss. Die Zusammenarbeit mit «Solar Impulse» steht für eine Neuausrichtung mit Fokus «saubere Energie». Um diese Ziele zu erreichen, seien substantielle Reduktionen der Primärinputs notwendig – von der beheizten Fläche über Prozesswärme und Verkehrs-Energie bis zu Motoren und Geräten. Die Eckdaten dazu sind der Studie «Cleantech Energiestrategie» zu entnehmen, die von swisscleantech erarbeitet wurde.
Vorschläge und Konzepte aus Bern kritisch prüfen
Jürg Brand, Präsident der VonRoll infratec, vertrat in einem – wie er selbst sagte – «Referat der andern Art» die Grossverbraucher und stellte «Überlegungen zu einem real nicht existierenden Markt» an. Er ist der Meinung, dass es für Grossverbraucher keine interessanten Angebote gibt, die auch die Bedürfnisse nach Versorgungssicherheit und Planbarkeit respektieren. Seiner Ansicht nach macht die Etablierung eines Strommarkts nur dann Sinn, wenn er zu besseren und günstigeren Leistungen führt. Als «Benchmark» nennt er die Stromversorgung im Gebiet der Axpo. Er kritisiert die engen Verknüpfungen von öffentlicher Hand und Stromversorger sowie «die mit der Energiepolitik verbundenen Wertungen und staatlichen Eingriffe» – mithin eine anspruchsvolle Interpretations-Aufgabe an die Zuhörerschaft. Brand: «Wenn schon Markt – dann richtig!». Die bundesrätlichen Vernehmlassungen gehören weggelegt und abgeschlossen – Abwarten sei auch eine Alternative und die Preisentwicklung auf den Märkten für elektrische Energie lassen keine übertriebene Eile angezeigt erscheinen. Angesprochen von den Ausführungen Nick Beglingers war natürlich Axpo als Hauptversorger in der Schweiz: Dr. Martin P. Everts,Leiter Energiewirtschaft bei Axpo Holding AG, legte dar, dass die Schweiz schon heute einen zum grossen Teil erneuerbaren Strommix aufweist (55% erneuerbar). Dies sei im Vergleich zum EU-Schnitt von 15% ein bemerkenswert hoher Wert. Allerdings sei die vielbeschworene Unabhängigkeit in der Stromversorgung bereits heute nicht gegeben: «An einem Wintertag beträgt der Selbstversorgungsgrad in der Schweiz lediglich rund 70%.» Everts bedauerte, dass bei der Energiewende nur die Abkehr von der Kernenergie thematisiert und den Fragen der Ressourcen und der Emissionen viel zu wenig Beachtung geschenkt werde. Die Krux der geplanten Energiestrategie liege auch im Jahresverlauf: Im Sommer würden künftig Photovoltaik und Wind zu viel Strom produzieren, was bereits im Jahr 2040 zu Preisen führte, die gegen Null tendierten. Hingegen könnte im Winter die Nachfrage nicht gedeckt werden. «In dieser Jahreszeit, und in der Nacht, werden die Angebote Wind/Photovoltaik zu klein sein, um den Bedarf zu decken.» Gas-Kombikraftwerke und Speicher würden nötig sein, um keine Versorgungslücken entstehen zu lassen, so Everts. Diese Werke werden an Bedeutung gewinnen, weil die neue Energiestrategie flexible Technologien mit kurzen Laufzeiten bevorzuge, womit etwa Laufwasserkraftwerke aus dem künftigen System verdrängt werden könnten. Everts verneinte jedoch, dass die Axpo gedenke, sich von diesen Werken zu trennen.
Reformen ohne falsche Hast angehen
Dr. Urs Meister, Vertreter von Avenir Suisse, die an der Gestaltung der Tagung wesentlich mitbeteiligt war, widmete sich dem Thema «Energiestrategie nach Fukushima». Er plädierte für eine vollständige Marktöffnung, für Marktpreise statt regulierter Tarife und für eine konsequente Entflechtung des Übertragungsnetzes. Zur Risikominimierung für die Kantone sei die Privatisierung der Produzenten voranzutreiben und die Schweiz mit Strom-und Energieabkommen noch konsequenter in den europäischen Strommarkt zu integrieren. «Die Schweiz ist keine Strominsel und Ausfälle wie etwa Leibstadt im Jahr 2005 haben Abhängigkeiten sehr klar zutage treten lassen.» Einmal beschlossen, seien die Kosten des Atomausstiegs zu minimieren. Auch Urs Meister tritt wie Jürg Brand für eine «Eile-mit-Weile-Strategie» ein, die neue technische Optionen und die Minimierung der Netzkosten einschliesst. Grosse Fragezeichen setzt er hinter eine «Industriepolitik», welche die Gefahr der Förderung «falscher Technologien» und unerwünschte Umverteilungseffekte beinhalte. «Schon heute kann die faktische Preisregulierung verzerrte Bilder ergeben.»
Zerren am Energie-Tischtuch auf dem Podium
Zu Beginn der Tagung hatte Ständerat Eberle die Diskussion rund um die Energiefrage mit einem Tischtuch verglichen, bei dem an allen Enden gezerrt werde und bei dem auch die Gefahr des Zerreissens vorhanden sei. Also wurde am Podiumsgespräch im Anschluss an die Tagung «gezerrt»: Teilnehmer waren die Referenten der Tagung, angereichert durch Josef Gemperle, CVP-Kantonsrat und Präsident der Energieinitiativen Thurgau , der für den verhinderten Roland Eberle eingesprungen war. Moderiert wurde das Gespräch vom NZZ-Inlandredaktor Davide Scruzzi. Dabei wurden die Argumente der Tagung nochmals zusammengefasst und verstärkt. Eine Einschätzung lässt indessen erkennen, dass der Erhalt der Arbeitsplätze und des Wirtschaftsstandorts Schweiz, basierend auf hoher Versorgungssicherheit mit Energie, Hauptanliegen aller Teilnehmer ist. Allerdings ist der Weg dorthin nicht für alle der gleiche, der Weg darf auch nicht gepflastert sein von einengenden Regulatoren, welche den Durchbruch der Märkte künstlich verhindern könnten. Schlagworte wie die 2000-Watt Gesellschaft für die Schweiz ideologisieren, und sie sind nicht lösungsorientiert. Der Lilienberg-Zyklus «Energiewende» des Aktionsfeldes Wirtschaft & Industrie wurde mit dem Podiumsgespräch abgeschlossen. Er mag wenig fundamental neue Erkenntnisse zutage gebracht haben. Aber er hat sehr wohl zur Steigerung der Wahrnehmung beigetragen: «Nichts tun» wird die Probleme nicht lösen. Und bewusster Umgang mit Energie irgendwelcher Art (wohl in Kombination mit klar erkennbarer höherer Energie-Effizienz) ist notwendig. Auch intelligent verwendete Ressourcen lassen sich nicht beliebig vermehren. Im Gegenteil. Ob es gelingen wird, politischen Konsens über Tempo und Marschrichtung zu erzielen, blieb nach dem Podium offen. Wünschenswert wäre, dass der an der Tagung von Ständerat Eberle geäusserte staatsmännische Wunsch Realität würde: Andere Meinungen in der Energie-Frage zu akzeptieren und die Antipoden nicht gleich in die Ecke der Landesverräter zu stellen.