Die Überwindung von Hunger und Elend gehört wohl für alle «Menschen guten Willens» zu den selbstverständlichen, noblen Ambitionen jener Teile des Planeten, denen es vergleichsweise gut geht. Tatsächlich wurde in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich viel erreicht. «Nur» noch rund 1,2 Mrd. Menschen leben heute in extremer Armut (mit weniger als $ 1.25 pro Tag). Das sind zwar immer noch 1,2 Mrd. zu viel, aber um 1980 waren es noch fast 2 Mrd. Und weil die Menschheit seither stark gewachsen ist, hat sich der Anteil dieser Ärmsten an der Weltbevölkerung noch stärker reduziert, von fast 43% auf gut 17%. Das bedeutet, dass heute über 3 Mrd. Menschen mehr über der Elend-Schwelle leben – Tendenz steigend.
Auf China und Indien schauen
Viele Jahrzehnte herrschte die Vorstellung, der Teufelskreis aus Armut und schwachem Wachstum könne mit Entwicklungshilfe durchbrochen werden. Im Jahr 2006 hat William Easterly mit seinem aufrüttelnden Buch «The White Man’s Burden: Why the West’s Efforts to Aid the Rest Have Done So Much Ill and So Little Good» aber deutliche Fragezeichen hinter diese Überzeugung gesetzt. Viele andere, Theoretiker ebenso wie Praktiker der Entwicklungshilfe, sind ihm in seiner Analyse gefolgt.
Die wirtschaftspolitische Grafik des Monats unterstreicht einige Überlegungen dieser eher skeptischen Sicht auf die Entwicklungshilfe. Sie zeigt für einige Länder, die 1980 zu den ärmsten zählten (und von denen es verlässliche Daten gibt) das Bruttoinlandprodukt pro Kopf und die öffentliche Entwicklungshilfe pro Kopf in Prozent des BIP pro Kopf. Absolute Zahlen der Entwicklungshilfe sind nämlich wenig erheblich. Entscheidend ist vielmehr die Hebelwirkung, also das Gewicht der Hilfe bezogen auf das allgemeine Einkommensniveau. Zunächst zeigt die Darstellung, dass alle ausgewählten Länder Fortschritte gemacht haben, selbst Burundi, wo das Pro-Kopf-Einkommen nur um lausige 9% gestiegen ist. Das ist de facto selbst nominal Stagnation oder Rückschritt, wenn man um die Unsicherheit der Zahlen weiss. Erst recht gilt dies natürlich in einer realen Betrachtung.
Je nachdem, welche Inflationszahlen man zugrunde legt, verkehren sich kleinere Zuwachsraten in Abnahmen, und die Wachstumsraten von mehreren hundert Prozent schrumpfen auf die Hälfte oder noch weniger. Ferner wird deutlich, dass der skizzierte weltweite Rückgang von Armut fast ausschliesslich Ländern wie China und auch Indien zu verdanken ist; mit ihren Bevölkerungszahlen von 1,3 bzw. 1,2 Mrd. (2010) erdrücken sie alles. Am wichtigsten ist jedoch, dass die offizielle Entwicklungshilfe in den beiden grössten Ländern, aber auch in anderen Staaten, höchstens von marginaler Relevanz ist. Einerseits haben China und Indien 1980 kaum Entwicklungshilfe erhalten und doch das Durchschnittseinkommen innert 30 Jahren um beeindruckende 2200% bzw. immerhin 420% auf 4400 $ bzw. 1400 $ gesteigert. Sie sind gute «Futterverwerter» und holen aus der minim fliessenden Hilfe das Maximum heraus, weil sie die Stärkung des Privatsektors und die Integration in die Weltwirtschaft vorangetrieben sowie eine Politik der Stabilität und Verlässlichkeit verfolgt haben. Anderseits brachten Länder wie Guinea-Bissau oder das von Kriegs- und Flüchtlingselend gebeutelte Somalia, deren Bevölkerungen 1980 zu über 50% bzw. zu 80% von Entwicklungshilfe lebten, keinen grösseren Zuwachs zustande als Indien; die beiden Länder serbeln um die 550 $ Einkommen pro Kopf und Jahr dahin. Ein ähnlich katastrophaler «Futterverwerter» ist Burundi.
Verschüttete Potenziale
Auffallend ist in dieser Auswahl von ärmsten Staaten ein Phänomen, das bei den reichen Staaten genau umgekehrt gilt: Die Kleinheit von Staaten scheint für die Umsetzung von Hilfe in Wachstum kein Vorteil zu sein. Da diese kleineren Staaten allerdings fast ausschliesslich in Afrika liegen, fragt sich, ob nicht dieser kulturelle und geografische Hintergrund die entscheidende Rolle spielt. Dafür würde sprechen, dass der asiatische Kleinststaat Bhutan mit wenig Hilfe fast 600% Wachstum geschafft hat. Allerdings zählt auch Tschad zu den besseren «Futterverwertern», vor allem aber der absolute Ausreisser, die Malediven mit ihren etwa 300 000 Einwohnern. Hier ermöglichten Kleinheit einerseits und Tourismus anderseits ein höheres Pro-Kopf-Wachstum als in China.
Was hier sehr punktuell dokumentiert ist, wird von vielen detaillierten und umfassenden Studien bestätigt: wachsende Geldströme von aussen lösen die Armutsprobleme nicht, im Gegenteil. Die Umverteilung von Nord nach Süd zerstört Anreize, verschüttet oft lokale Potenziale und verführt gute Leute dazu, ihr Glück in der Entwicklungshilfe statt im Unternehmertum zu suchen. Dazu kommt, dass der Grenznutzen von Entwicklungshilfe abnimmt: Die ersten 1000 $ bewirken mehr als jene, die die Million voll machen. Vor allem aber ist die Regierungsführung entscheidend. Wo Rechtsstaatlichkeit und die Respektierung grundlegender Menschenrechte fehlen und Korruption sich breitmacht, bringen Entwicklungshilfegelder erst recht nichts, weder Menschlichkeit noch Wachstum. Insofern bestätigt sich auch hier, dass Wohlstand und Wohlfahrt nicht durch Verteilung entstehen, sondern durch unternehmerische Kreativität, Arbeit, Sparen, Innovation – und durch gute staatliche Rahmenbedingungen.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Juni 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.