Der Lohnherbst steht bevor – und er ist dieses Jahr heisser als sonst. Die Inflation ist mit 3,5 Prozent für Schweizer Verhältnisse ungewöhnlich hoch, und die Frage des Teuerungsausgleichs steht zuoberst auf der Agenda von Arbeitgebern und Gewerkschaften.
Diese Verhandlungen zwischen Spitzenvertretern erwecken den Eindruck, das allgemeine Lohnniveau werde am Verhandlungstisch festgesetzt. Dabei sehen sich die Gewerkschaften gerne als Garant des allgemeinen Lohn- und Einkommenswachstums. Langfristig ist aber die Zunahme der Wertschöpfung pro Arbeitnehmer – also der Produktivitätsfortschritt – für die Einkommensentwicklung entscheidend. Und Produktivitätsfortschritte werden von Innovation, Investitionen und der Qualifikationen der Beschäftigung angetrieben. Darauf haben Gewerkschaften kaum Einfluss.
Die Abbildung illustriert die enge Beziehung zwischen Produktivitätsfortschritten und Wohlstandsgewinnen in der Schweiz, letztere mit dem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) pro Kopf angenähert.
In der Schweiz glich die steigende Stundenproduktivität den negativen Wachstumsbeitrag der demografischen Entwicklung weitgehend aus – namentlich den schrumpfenden Anteil der aktiven Arbeitsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung. Zwar wirkte sich die erhöhte Arbeitsmarktpartizipation der Frauen ebenfalls positiv auf die Einkommensentwicklung aus. Allerdings ging dies auf Kosten kürzerer mittlerer Arbeitszeiten der Erwerbstätigen.
Ortete man noch in der ersten Hälfte der 2010er Jahre eine Produktivitätskrise der Schweizer Wirtschaft, scheint diese These seit 2014 an Relevanz einzubüssen. Die einfache Gleichung, wonach ein schwach wachsendes BIP unter starker Zuwanderung auf immer mehr Köpfe verteilt wird – und das Pro-Kopf-Einkommen deshalb stagniert –, wird der Realität nicht gerecht. In den letzten 20 Jahren waren die Produktivitätsfortschritte in der Schweiz mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 0,9% pro Jahr zwar alles anderes als spektakulär, allerdings waren sie im Vergleich zu unseren direkten Nachbarn stetiger und überdurchschnittlich.