Man mag insgeheim gehofft haben, die Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der EU über eine Neuregelung der Beziehungen würde auch zu einer Renaissance des Subsidiaritätsprinzips führen. Immerhin ist dieses Ordnungsprinzip in Art. 5 EU-Vertrag explizit verankert und verfügt die EU-Kommission in Person des Vize-Präsidenten Frans Timmermans erstmals über einen Super-Kommissar für Subsidiaritätsfragen. Zudem beklagen nicht nur Grossbritannien, sondern auch andere Mitgliedstaaten die grassierende Überregulierung und die zu starke Einmischung in nationale Belange.

Subsidiarität als Schönwetterprinzip

Würdigt man die Vereinbarungen zwischen Grossbritannien und der EU, über die am 23. Juni 2016 auf der «Insel» abgestimmt wird, erhält man nicht den Eindruck, dass das Subsidiaritätsprinzip eine grosse Rolle gespielt hat. Obwohl die ökonomische Theorie des Föderalismus eigentlich objektive und operative Handlungsempfehlungen für die stufengerechte Verteilung von staatlichen Aufgaben in einem föderalen Verbund liefert, liessen sich Bürokratie und Politik davon nicht leiten. Auf allen vier Feldern, wo es zu Vereinbarungen gekommen ist, geht es weder um rechtsrelevante Rückverlagerungen von Kompetenzen an Grossbritannien noch um eine Neuverteilung von Kompetenzen. Auch die materielle Bedeutung der Vereinbarungen scheint sich in Grenzen zu halten.

Neuregelung auf dem Prüfstand

Hinsichtlich der «Souveranität Grossbritanniens» wird festgehalten, dass das Land nicht zu einer weiteren politischen Integration verpflichtet ist. Zudem soll der Einfluss der nationalen Parlamente im Vergleich zur heutigen Regelung etwas gestärkt werden («rote Karte»), wenn 55% der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen Subsidiaritätseinwände haben. Dann wird ein Gesetzgebungsverfahren der EU-Kommission entweder gestoppt oder unterbrochen, bis den Wünschen der Mitgliedstaaten entgegen gekommen wird. In Sachen «Wirtschaftssteuerung» wird Grossbritannien einerseits zugesichert, durch die Entscheidungen der Euro-Staaten nicht benachteiligt zu werden. Anderseits kann das Land die weitere Integration der übrigen Mitglieder der Eurozone aber auch nicht aufhalten. In Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit heisst es, dass konkrete Schritte zum Bürokratieabbau in Angriff genommen werden sollen, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu stärken. Derartige Selbstverpflichtungen gibt es schon heute zuhauf, ohne dass sie etwas bewirkt hätten.

Subsidiarität in der EU: Nur Kosmetik.

«Europa wenn nötig, Nationalstaaten wenn möglich»: Grossbritannien wird nicht zu einer weiteren Integration verpflichtet. (Wikimedia Commons)

Materiell gewichtiger sind die Vereinbarungen auf dem Gebiet der Sozialleistungen, wo Grossbritannien staatliche Lohnzuschüsse für Geringverdiener um vier Jahre aufschieben und das Kindergeld für EU-Ausländer an die niedrigeren Lebenshaltungskosten in deren Heimatländern anpassen kann. Insgesamt kommt es zu keinen Änderungen am Primärrecht (EU-Vertrag). Vielmehr soll der materielle Gehalt der Vereinbarungen bei der nächsten Überarbeitung der Verträge aufgenommen werden.

Wichtige Reformbarrieren

Selbst die deutsche Bundesregierung gestand in ihrem Kommentar zur Neuregelung des zukünftigen Verhältnisses Grossbritanniens zur EU ein, dass der Grundsatz der Subsidiarität in der Vergangenheit kaum zur Anwendung gelangte. So wird leider das bestätigt, was Avenir Suisse in seinem Diskussionspapier «Mehr Subsidiarität statt falsche Solidarität – Ein Aufruf zu Reformen in der EU» schrieb. Die Subsidiarität in Art. 5 EU-Vertrag «ist inhaltlich weitgehend unbestimmt, nicht justiziabel und sie lässt sich auch nicht für die Vergangenheit anwenden. Zudem ist es widersprüchlich und bedenklich, die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips ausgerechnet den Akteuren auf der EU-Ebene anzuvertrauen, deren Kompetenzen und Macht in Schach gehalten werden sollen.»

Die bisherigen Erfahrungen und die jüngsten Verhandlungen mit Grossbritannien haben einmal mehr bestätigt, dass es ausserordentlich schwierig ist, Kompetenzen neu zu regeln bzw. auf die nationale Ebene zurückzuführen, weil dies Vertragsveränderungen in grossem Stil erfordert. Dazu sind die Mitgliedstaaten – zumindest in der derzeitigen Lage – nicht bereit, weil sie weder an Grundprinzipien (wie der Personenfreizügigkeit) noch an der heutigen Balance der Institutionen rütteln wollen. So bleiben nur die Hoffnungen, dass die Bestrebungen der derzeitigen niederländischen Präsidentschaft für eine Verlagerung der EU-Befugnisse nach dem Prinzip «Europa wenn nötig, Nationalstaaten wenn möglich» dereinst einmal auf fruchtbareren Boden und in eine günstigere Zeit fallen.