Nach der Abstimmung ist vor der nächsten europapolitischen Abstimmung. Mit der klaren Ablehnung der sogenannten Begrenzungsinitiative steht die Schweiz vor der Herausforderung, die langfristige Beziehung zur EU innert kurzer Zeit zu klären. Seit rund zwei Jahren liegt dafür ein ausgehandelter Vertrag auf dem Tisch, und die Erwartung seitens Brüssel ist entsprechend gross, dass sich der Bundesrat endlich hinter das gemeinsam erarbeitete Rahmenabkommen stellt. Doch Bern ist bisher vor allem durch Abwarten aufgefallen – man will das heisse Eisen nicht anpacken. Denn in der innenpolitischen Diskussion sind vor allem jene Stimmen laut geworden, die das Abkommen am liebsten direkt an die EU zurücksenden möchten. Dies ignoriert gemäss Umfragen den Puls der Bevölkerung, die Präzisierungen fordert oder gar den bestehenden Text billigt (Nau.ch 2020, SRF 2019, Luzerner Zeitung 2019)

Die Zeit drängt – bilaterale Erosion und harter Brexit

Die Schweiz ist und bleibt in ihrer Beziehung zur EU ein Drittstaat, kann aber aufgrund der massgeschneiderten bilateralen Verträge mit den grundsätzlich gleichen Rechten und Pflichten wie ein Mitgliedsstaat am EU-Binnenmarkt teilnehmen. Keinem anderen Land gestattete die EU bisher eine solche Lösung. Sie ist das Ergebnis tausender Verhandlungsstunden seit 1993, das sich in über 100 Verträgen manifestierten und über ein Dutzend Mal bereits vom Schweizer Souverän abgesegnet wurden. Nun besteht die akute Gefahr, dass dieser bilaterale Weg erodiert, denn ohne Rahmenabkommen werden wichtige Elemente der bilateralen Beziehung zur EU schrittweise obsolet. Studenten, Forscher und Werktätige in der Medtech-Branche der Schweiz könnten die ersten sein, die die negativen Auswirkungen spüren.

Unter noch mehr Zeitdruck steht das Vereinigte Königreich (Financial Times 2020). Die jüngsten Winkelzüge des britischen Premiers legen den Schluss nahe, dass im Dezember ein «harter Brexit» droht. Zu gross scheinen die Differenzen mit der EU. Damit nehmen die Unsicherheiten für die Wirtschaft des Vereinigten Königreiches – zusätzlich zur Corona-Krise – abermals zu. Die britischen Regierung plant den zügigen Abschluss neuer  Freihandelsabkommen rund um den Globus. Ob dies gelingen wird, und sie den präferentiellen Zugang zum EU-Binnenmarkt aufwiegen können, wird sich noch zeigen müssen. Dabei gäbe es zwischen EU-Mitgliedschaft und dem Rückfall auf die grundlegenden WTO-Handelsprinzipien vielfältige Möglichkeiten, das Verhältnis zur EU zu gestalten (vgl. Barnier 2017).

Netzwerk an Freihandelsverträgen – die Efta als Opportunität?

Während die Schweiz und das Vereinigte Königreich die Gestaltung ihrer zukünftigen Beziehung zu ihrem Nachbarn EU dringend anpacken müssen, ist das zukünftige Verhältnis zwischen den beiden Ländern durch die sog. «Mind the gap»-Strategie bereits weitestgehend geklärt. Eine gemeinsame Basis könnte auch die Europäische Freihandelsassoziation (Efta) bilden, die seit dem Übertritt der meisten ihrer ursprünglichen Mitglieder zur EU nur noch aus einem Rumpfteam – bestehend aus der Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein – besteht. Hauptziel der Efta ist die Vertiefung des Aussenhandels und die wirtschaftliche Zusammenarbeit ihrer Mitglieder – sowohl untereinander wie auch gegenüber der Welt insgesamt. So fokussiert die Assoziation auf den Ausbau ihres Netzwerkes an weltweiten Freihandelsverträgen. Zurzeit hat die Efta Abkommen mit 40 Ländern und Territorien (Efta 2020), nächstens soll ein Vertrag mit den Mercosur-Staaten hinzukommen. Eine Efta-Mitgliedschaft hindert ein Land nicht daran, selbst Abkommen mit weiteren Ländern zu vereinbaren; so sind die Freihandelsverträge mit Japan und China bilaterale Vereinbarungen der Schweiz.

Für das Vereinigte Königreich könnte die Efta eine Opportunität darstellen, ihr angestrebtes weltweites Netzwerk an Wirtschaftsabkommen rasch zu erreichen, und die eigene Flexibilität zu wahren. Voraussetzungen wäre ein Beitrittsgesuch des Vereinigten Königreichs zur Freihandelszone, die Zustimmung aller Efta-Mitglieder sowie die Einwilligung der Freihandelspartner der Assoziation zur Ausdehnung der Verträge auf den neuen Mitgliedsstaat. Bereits einmal – von 1960 bis 1972 – war das Vereinigte Königreich Teil der Efta, fungierte gar als eines der sieben Gründungsmitglieder. Doch wäre eine solche «Efta+» – unbesehen der aktuellen britischen Strategie – auch vorteilhaft für die bestehenden Mitgliedstaaten, insbesondere die Schweiz?

Veränderung der wirtschaftlichen Gewichte

Bei einem allfälligen Beitritt des Vereinigten Königreiches würden sich die wirtschaftlichen Gewichte innerhalb der Efta verschieben. Doch entgegen der Vermutung würde damit die relative «Unwucht» nicht zunehmen. Bereits heute ist der Schweizer Aussenhandel mit rund 812 Mrd. Fr. (Summe aller Exporte und Importe von Waren und Dienstleistungen) fast dreimal so gross, wie derjenige der verbleibenden Efta-Mitglieder zusammen (Efta 2020). Das Aussenhandelsvolumen des Vereinigten Königreiches beträgt schon jetzt das Eineinhalbfache des gesamten Efta-Raumes(vgl. Abbildung). Eine allenfalls befürchtete «Marginalisierung» der Interessen bestehender Efta-Mitglieder – insbesondere der Schweiz – müsste anhand der wirtschaftlichen Proportionen beurteilt werden.

Ähnliche Wirtschaftsstruktur

In der Struktur sind sich der schweizerische und britische Aussenhandel relativ ähnlich – z.B. auch im Unterschied zu Norwegen und Island: Der norwegische Aussenhandel ist geprägt von Erdöl (56%) und der Fischerei (11%), der isländische wiederum von der Fischerei (39%) und Aluminium (34%). Dienstleistungen spielen – mit Ausnahme der Schifffahrt – im internationalen Handel der beiden Volkswirtschaften eine untergeordnete Rolle.

Die Schweizer Wirtschaft ist stärker diversifiziert. Zwar dominiert mit Pharma (34%) auch die Industrie den Aussenhandel, dieser weist jedoch eine höhere Stufe der Veredelung und Wertschöpfung auf als die Fischerei. Ihr folgen in der Bedeutung mit je rund 9% der Maschinenbau, die chemische Industrie und die Herstellung von Uhren.

Die Aussenwirtschaft des Vereinigten Königreichs ist ähnlich heterogen. Wie in Norwegen dominiert Erdöl den Aussenhandel, ist jedoch mit einem Anteil von nur 12% viel weniger geringer. Es folgen die Autoindustrie (9%) und pharmazeutische Produkte (7%). Betrachtet man zusätzlich den Aussenhandel mit Dienstleistungen ergibt sich eine Gemeinsamkeit bei der Stärke der Finanzplatzes.

Wiederaufnahme der Gespräche?

Die ursprünglich abwehrende Haltung Norwegens (vgl. Süddeutsche Zeitung 2016) und Islands gegenüber einem Efta-Beitritt des Vereinigten Königreichs hat sich gemäss Berichten inzwischen etwas entspannt (vgl. Reuters 2018, Guardian 2019). Trotzdem verfolgen die heutigen Mitgliedsländer das Ziel einer möglichen Efta-Erweiterung seit Frühling 2019 nicht mehr aktiv. Dies, obwohl eine «Efta+» aufgrund ihres grösseren wirtschaftlichen Gewichts die Aufdatierung bestehender Verträge forcieren und den vielfach stockenden Diskussionen mit neuen Freihandelspartnern Schwung verleihen könnte. Das ehemalige Gründungsmitglied wäre eine gewichtige Ergänzung für die Freihandelsassoziation, insbesondere bei allfälligen Verhandlungen mit den USA (vgl. Dümmler und Anthamatten 2019).

Seit dem Efta-Entscheid, das Vereinigte Königreich nicht mehr aktiv zu umwerben, hat sich die Ausgangslage verändert: Die Weltwirtschaft,  und insbesondere das Vereinigte Königreich, wurden von der Covid-19-Pandemie hart getroffen, und der Multilateralismus wurde durch die Lahmlegung der WTO-Berufungsinstanz entscheidend geschwächt. Und während die Uhr mit Blick auf einen «harten» Brexit weiter tickt, hat sich der Ton zwischen den Regierungen in London und Brüssel weiter verhärtet. Es gäbe also gute Gründe, um die Gespräche zwischen der Efta und dem Vereinigten Königreich wieder aufzunehmen.

Die grösste Hausaufgabe bleibt bestehen

Eine «Efta+» kann für beide Seiten eine Gelegenheit sein, den Aussenhandel zu stärken. Gleichwohl darf die Bedeutung eines allfälligen Beitritts des Vereinigten Königreichs zur Efta nicht überschätzt werden, denn die grösste aussenwirtschaftliche Hausaufgabe für die Schweiz und das Vereinigte Königreich wird damit nicht gelöst: Der Erhalt einer stabilen Beziehung zum wichtigsten Handelspartner EU und die Absicherung der präferentiellen Marktzugangsbedingungen. Beide sind entscheidend für die Prosperität der zwei Länder.