Mondflug, Aufstieg zum bevölkerungsreichsten Land der Welt, exzellente Wachstumsprognosen: Die Rede ist von Indien, das eine zunehmend wichtige Rolle auf der Weltbühne spielt.

Vor diesem Hintergrund ist das Interesse der Efta-Staaten Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein an einem Handelsabkommen mit Indien nachvollziehbar. Nach 16 Jahren und 21 Verhandlungsrunden haben Indien und die Efta unter Schweizer Federführung im März eine Handels- und Wirtschaftspartnerschaft, das Trade and Economic Partnership Agreement (Tepa) unterzeichnet. Der Bundesrat hat diese Woche mit der Verabschiedung der Botschaft den Ratifizierungsprozess eingeleitet.

Ist das ein Erfolg für die Schweiz und ihre auf verschiedene Partner ausgerichtete Freihandelspolitik? Ja, denn das wirtschaftliche Potenzial Indiens ist enorm. Dieser zweiteilige Blog schaut jedoch genauer hin und widmet sich im ersten Teil dem etwas eigenwilligen Investitionsförderungskapitel im Tepa. Im Fokus des zweiten Teils stehen dann die «klassischen» Elemente eines Freihandelsabkommens, der Handel mit Waren und Dienstleistungen.

Ewige Hoffnungsträgerin?

«Ich gehe (nach Indien), weil es die grösste Demokratie der Welt ist, und ich denke, wir haben nicht genug mit ihnen zusammengearbeitet.» Dieses Zitat stammt von Bill Clinton, der im Jahr 2000 als erster US-Präsident seit 22 Jahren Indien besuchte und bedauerte, Indien zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben.

Indien ist angesichts des beeindruckenden Wirtschaftswachstums und dank der jungen Bevölkerung für westliche Staaten attraktiv. Bald dürfte das Land zur drittgrössten Volkswirtschaft nach den USA und China werden.

Sicht von oben auf einen Markt in Indien mit bunten Sonnenschirmen.

Mondflug, Aufstieg zum bevölkerungsreichsten Land der Welt, exzellente Wachstumsprognosen: Indien ist ein Land der Gegensätze. (Adobe Stock)

Allein ein Blick auf die Zahlen spricht Bände: Das Durchschnittsalter der 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner beträgt 30 Jahre, das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandprodukt 9279 Milliarden US-Dollar, die Wachstumsrate liegt bei über 7% (2022).

Modi möchte «Make in India»

Um das Wachstum aufrechtzuerhalten, müssten die vielen jungen Menschen von der dominierenden Landwirtschaft in die Industrie oder den Dienstleistungssektor wechseln. Gemäss einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation ILO hat Indien allerdings grosse Schwierigkeiten bei der Arbeitsmarkintegration junger Erwachsener, was etwa an mangelnden Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten liegt.

Eine weitere Erklärung könnte darin liegen, dass aufgrund der wenig entwickelten Industrie Arbeitsplätze für Geringqualifizierte fehlen. Indien hat den Weg von der Agrar- zur Dienstleistungswirtschaft bisher weitgehend ohne den «Umweg» über den Aufbau einer grösseren industriellen Produktion beschritten. Tatsächlich sind in den letzten Jahren viele junge Menschen wieder aufs Land zurückgekehrt, um auf dem elterlichen Bauernhof zu arbeiten.

Vor diesem Hintergrund will die 2014 lancierte «Make in India»-Initiative Investitionen ankurbeln und Innovationen fördern. Indien soll so zur «neuen Werkbank der Welt» aufsteigen. Doch die Initiative ist alles andere als ein Erfolg. Das Ziel, per 2022 den Anteil der verarbeitenden Industrie auf einen Viertel des BIP zu erhöhen, wurde um zehn Prozentpunkte klar verfehlt.

Zudem leistet sich die Regierung Widersprüche, die merkantilistische Züge tragen: Trotz grosszügiger Subventionen, welche die Produktion in Indien attraktiver machen sollen, verteuerte sie in den letzten 30 Jahren immer wieder den Import von Vorprodukten.

Beim Handel konzentriert sich Indien auf den Abschluss bilateraler Abkommen  und verzichtet (vorerst) auf eine Teilnahme an den grossen regionalen oder transregionalen Abkommen wie der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) oder dem Comprehensive and Progressive Agreement for trans-Pacific Partnership (CPTPP).

Unkonventionelle Investitionsförderung

Diese industriepolitischen Ambitionen erklären auch, warum die indische Regierung in den Verhandlungen das Investitionsförderkapitel zur «conditio sine qua non» erklärt hat. Darin verpflichten sich die Efta-Staaten, bis 2040 100 Milliarden US-Dollar zu investieren und eine Million Arbeitsplätze zu schaffen.

Keine geringe Summe, wenn man sich die Zahlen des indischen Handelsministeriums vor Augen führt. Seit der Jahrtausendwende haben die Efta-Staaten knapp 11 Milliarden US-Dollar in Indien investiert. Immerhin entfiel mehr als die Hälfte davon auf die letzten fünf Jahre. Ein unabhängiges Prüfverfahren soll die Investitionen sicherstellen. Auf der höchsten Eskalationsstufe dürfte Indien seine Zugeständnisse im Warenhandel zurücknehmen.

Diese spezifischen Vorgaben stellen ein handelspolitisches Novum dar. Zweifellos muten diese Verpflichtungen unkonventionell an, da weder die Efta noch ihre Mitgliedstaaten private Investitionen versprechen können. Das Beispiel sollte denn auch nicht zur Norm werden. Immerhin: Eine Fussnote präzisiert, dass Indien in der Lage sein sollte, in den nächsten 15 Jahren eine Wachstumsrate des BIP von 9,5% aufrechtzuerhalten, um die angestrebten Richtwerte zu erreichen.

Realpolitisch scheint es sich jedoch um eine pragmatische Wette zu handeln. Der Abschluss des Tepa noch vor einem Abkommen Indiens mit Grossbritannien oder der EU kann einen Wettbewerbsvorteil bedeuten. Zudem verspricht der zusätzliche Ausbau des helvetischen Freihandelsnetzes – mit Ecuador (2020), Indonesien (2021) und dem Vereinigten Königreich (2021) – die Schweiz in geopolitisch schwierigen Zeiten widerstandsfähiger zu machen. Die Schweizer Freihandelsverträge decken mittlerweile 77 Länder und rund 55% des Weltmarktes ab.

Indiens Herausforderungen

Ob Schweizer Unternehmer tatsächlich die festgelegten Summen investieren und Arbeitsplätze schaffen können, hängt auch davon ab, ob Indien seine Hausaufgaben macht. Das Land steht zum Beispiel in der Bildung vor grossen Problemen: Laut Weltbank liegt die Analphabetenrate bei 24%. Aufholbedarf gibt es zudem bei der Infrastruktur oder beim Abbau der Bürokratie, einschliesslich Lizenzvergabe an ausländische Unternehmen.

Ein weiteres Hindernis sind die ethno-nationalistischen Vorstellungen, die von der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Modi propagiert werden. Bei den Wahlen hat die BJP die absolute Mehrheit verpasst. Damit kann sie nicht im Alleingang die Verfassung und die darin verankerten Minderheitenrechte ändern. Dies gibt zumindest Hoffnung auf eine gewisse Stabilität und Berechenbarkeit im politischen Umfeld.

Trotz allem setzen die Efta-Länder auf eine positive wirtschaftliche und soziale Entwicklung Indiens. Nur vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass sie sich auf ein solch ungewöhnliches Abkommen eingelassen haben. Es bleibt abzuwarten, ob Indien mit den notwendigen Reformen das Vertrauen der Investoren gewinnen kann.

Teil 2: Schweizer Konzessionen an Indien