Mit dem publizistischen Scharmützel zwischen Bundesrat Beat Jans und Altbundesrat Ueli Maurer hat die Europapolitik sogar im Sommerloch für Schlagzeilen gesorgt. Das erstaunt nicht. Kaum werden die letzten Ferienkoffer verstaut sein, dürfte die europapolitische Debatte in der Schweiz wieder an Fahrt aufnehmen. Schliesslich soll bereits Ende dieses Jahres ein Verhandlungsresultat vorliegen. Höchste Zeit. Denn je länger die Hängepartie andauert, desto grösser werden die Kollateralschäden im Inland.
Bisher ist die Verflechtung zwischen der Schweiz und der EU eine Erfolgsgeschichte. Die EU ist mit einem Anteil von rund 50 Prozent aller Exporte der mit Abstand wichtigste Absatzmarkt für Schweizer Waren. Die Schweiz handelt mit der EU an einem Tag so viel wie mit Indonesien in einem Jahr – dem viertbevölkerungsreichsten Land der Welt. Gleichzeitig hat die Schweiz von der Zuwanderung europäischer Fachkräfte profitiert. Derzeit arbeiten rund 1,4 Millionen EU-Bürger in der Schweiz – gut ein Viertel aller Erwerbstätigen hierzulande.
Für Unternehmen ist ein unbürokratischer Zugang zu qualifizierten Mitarbeitenden zentral. Das gilt besonders in den innovativen und produktiven Branchen. Gleichzeitig bereitet die hohe Zuwanderung vielen Schweizerinnen und Schweizern Sorgen. Neben der Asylpolitik wird auf dem politischen Parkett denn auch über die Ausgestaltung der Personenfreizügigkeit mit der EU gestritten. Dabei dreht sich die Debatte aus ökonomischer Sicht primär um die Auswirkungen der hohen Zuwanderung auf zwei Märkte: den Arbeits- und den Wohnungsmarkt.
In beiden Märkten gibt es grosse regionale Unterschiede. Die Forschung legt nahe, dass die negativen Auswirkungen auf die inländischen Beschäftigten mehrheitlich gering sind, der Preisdruck auf dem Mietmarkt wegen der Zuwanderung jedoch gestiegen ist. Egal aber, ob die Nebenwirkungen der Migration echt oder nur gefühlt sind, die Politik hat das Thema längst für sich entdeckt. Dabei fällt auf, dass zunehmend zum Vorschlaghammer gegriffen wird: direkte Eingriffe in Märkte und Preismechanismen, sowohl bei den Löhnen als auch bei den Mieten.
So haben Basel-Stadt, Genf, Neuenburg, Jura und Tessin – alles Kantone mit vielen Grenzgängern – mittlerweile Mindestlöhne eingeführt. Hier werden Experimente gewagt, obwohl die Schweiz einen funktionierenden Arbeitsmarkt und ein ausgebautes soziales Netz vorweist. Dass solche Experimente nicht ohne Risiken sind, zeigt das Beispiel Genf, wo der Kanton eine Studie zum Thema in Auftrag gegeben hat. Diese kam zum Schluss, dass nach der Einführung des Mindestlohns die Jugendarbeitslosigkeit angestiegen ist. Und Mindestlöhne sind nur ein Beispiel unter vielen. So wurden etwa mit einer Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge oder der Stellenmeldepflicht diverse weitere Massnahmen ergriffen, die den liberalen Arbeitsmarkt – einem der zentralen Erfolgsfaktoren der Schweizer Wirtschaftspolitik – untergraben.
Dasselbe Bild zeigt sich am Wohnungsmarkt. Auch dort stechen gerade die Grenzkantone mit kontraproduktiver Regulierung hervor. Vorreiter war der Kanton Genf, der schon vor Jahrzehnten eine äusserst rigide Regelung unter anderem für Renovationen eingeführt hat. Mit den bekannten Folgen: Wer eine Wohnung sucht oder wechseln möchte, leidet unter Suchkosten und höheren Anfangsmieten. Gleichzeitig verharren die alteingesessenen Mieter in günstigen, aber schlecht unterhaltenen Wohnungen. Dessen ungeachtet hat vor kurzem auch der Kanton Basel-Stadt nachgezogen – als ob hier andere ökonomische Gesetze gelten würden als in Genf.
Zu den zentralen Standortvorteilen der Schweiz gehören funktionierende Märkte. So ist der liberale Arbeitsmarkt ein Schlüsselfaktor, weshalb das Land besser dasteht als viele unserer europäischen Nachbarn. Je länger die Weiterentwicklung des europapolitischen Dossiers verschleppt wird, desto stärker kommen diese Vorteile innenpolitisch unter Druck. Diverse politische Akteure haben es längst begriffen, den Schwebezustand für sich auszunutzen und kostspielige Markteingriffe in ihrem Sinne durchzusetzen. So stehen wir heute nicht nur mit leeren Händen im Europadossier da, sondern sägen uns gleichzeitig auch noch ein Standbein unseres Erfolgsmodells ab.
Es ist daher höchste Zeit, im Europadossier einerseits Klarheit zu schaffen und andererseits weitere Marktverzerrungen im Inland auszuschliessen. Noch grössere wirtschaftspolitische Kollateralschäden gilt es unbedingt zu verhindern. Nach dem Sommerloch sollte daher nicht nur die Europapolitik, sondern besonders auch neue Eingriffe in den Arbeits- und Wohnungsmarkt im Auge behalten werden. Denn während bei den Verhandlungen mit der EU ein positiver Abschluss ungewiss ist, sind bei den Markteingriffen im Inland die negativen Konsequenzen sicher.
Dieser Beitrag ist in der «NZZ am Sonntag» vom 11. August 2024 erschienen.