Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat nicht nur die Systemkritiker auf den Plan gerufen, die diese Krise als strukturelle Folge eines unstabilen Systems, nämlich der Marktwirtschaft, ansehen, sondern ebenso die Moralisten. Sie sehen in der Gier und Masslosigkeit der Verantwortlichen, etwa der Spitzenmanager in der Finanzbranche, die Wurzel allen Übels. Das ist insofern weit übers Ziel hinausgeschossen, als in den letzten zwanzig Jahren die Menschen, zumal die Führungskräfte, nicht einfach so viel «schlechter» geworden sind als früher. Die Menschen sind in Summe wohl genauso gut und genauso schlecht wie in früheren Generationen. Allenfalls gehen sie vielleicht heute da und dort zivilisierter und kontrollierter miteinander um. Das genügt aber gewiss nicht, um einem aszendenten Welt- und Menschenbild zu verfallen, gemäss dem wir uns immer mehr der Vollkommenheit nähern. Doch besteht umgekehrt gewiss auch keinerlei Grund für Kulturpessimismus.

Gelegenheit macht Diebe

Klar ist nur, dass Menschen auf Anreize reagieren. «Gelegenheit macht Diebe» bringt ein altes Sprichwort das sehr schön zum Ausdruck. Unsoziales und unmoralisches Verhalten hat viel mit Anreizen zu tun. Die Aushebelung des Prinzips Haftung, die Möglichkeit, mit riskanten Geschäften reich zu werden, aber im Misserfolgsfall die Konsequenzen auf die Allgemeinheit abwälzen zu können, führt in die Verantwortungslosigkeit. Hier ist anzusetzen, wenn man die Gefahr von Fehlentwicklungen in Zukunft verringern möchte.

Klar ist aber auch, dass die Versuchung der Gesellschaft, die Freiheit einzuengen und viel zu viel zu regulieren, umso mehr zunimmt, je mehr die privilegierten Menschen an der Spitze von Politik und Wirtschaft gegen gewisse Grundwerte des Zusammenlebens verstossen.

Moral statt Zwang

Gesellschaftlicher Zwang und individuelle Moral sind kommunizierende Röhren. Nur dort, wo sich die Individuen von sich aus, basierend auf ihrer Erziehung, nach einigen zentralen Grundsätzen der Moral und des Anstands richten, kann der Zwang in einer Gesellschaft auf ein Mindestmass herabgesetzt werden. Diese zentralen Grundsätze wurzeln in der Tradition der westlichen Gesellschaften. Deswegen hat Friedrich A. von Hayek zu recht betont, dass erfolgreiche freie Gesellschaften zugleich immer auch traditionsgebundene Gesellschaften seien. Von irgendwoher muss ja der Wertekanon kommen, der allgemein anerkannt ist und eine Gesellschaft verbindet, ja zusammenhält.

Das Bekenntnis zu solchen Grundelementen einer abendländisch-westlichen Tradition ist kein Widerspruch zur Liberalität, solange diese Werte bloss als ein Angebot unter vielen verstanden werden, als inhaltliche Bereicherung des Liberalismus, nicht als zwingender Kanon. Wertkonservative Liberale sind überzeugt, dass sich auch Grundwerte im Wettbewerb durchsetzen müssen und dass gerade traditionelle Werte ihre Sinnhaftigkeit bewiesen haben. Konservative möchten dagegen ihre Werte gerne der ganzen Gesellschaft aufoktroyieren.