Es ist ein Gemeinplatz und wird doch hartnäckig verdrängt: Als Otto von Bismarck, der erste Reichskanzler des neu gegründeten Deutschen Reiches, auf Anfang 1891 die Invaliditäts- und Altersversicherung einführte, hatte auf diesen Sicherheitszuschuss zum Lebensunterhalt nur Anspruch, wer das 70. Lebensjahr erreichte. Das waren etwa 2% der deutschen Bevölkerung. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt lag damals für Männer bei knapp 41 Jahren, für Frauen bei 44 Jahren. Das Leben war Arbeit, ein altersbedingtes Ausscheiden aus dem Beruf gab es nicht, und die Rente sollte lediglich dazu dienen, auch jenen ein Leben in Würde zu ermöglichen, die ein so hohes Alter erreichten, dass sie praktisch nicht mehr arbeitsfähig waren.
Gesellschaftlicher Irrweg
Die Finanzierung einer solchen Rente im Umlageverfahren stellte zu Bismarcks Zeiten kaum ein Problem dar. Das Verhältnis der Bevölkerung im Erwerbsalter zur Bevölkerung im Rentenalter lag irgendwo bei 30:1. 1916, als das Rentenalter für Arbeiter in Deutschland auf 65 gesenkt wurde (für Angestellte war die Senkung bereits 1911 erfolgt), lag das Verhältnis ungefähr bei 10:1. Heute liegt dieses Verhältnis in der Schweiz eher bei 4:1, bis zum Jahr 2050 wird es auf 2:1 zu stehen kommen. Doch hier soll weniger die mangelnde und wegen der Scherenbewegung zunehmend geringer werdende Tragfähigkeit eines Finanzierungsmodells gezeigt werden, in dem die eine Hälfte der Bevölkerung, eben die Erwerbsbevölkerung, arbeitet und die andere entweder in der Ausbildung steht oder das Alter zu geniessen versucht. Die beigefügte Grafik macht mindestens ebenso deutlich, wie fragwürdig die zunehmend striktere Dreiteilung unseres Arbeitslebens auch unter gesellschaftlichen Aspekten ist. Am Anfang des Lebens steht eine in den letzten Jahren noch länger gewordene Ausbildungsphase, die in der Schweiz wegen des relativ späten Schulbeginns jedenfalls für Studierende überdurchschnittlich lange dauert. Nicht selten wird gerufen, man solle Kinder und Jugendliche nicht zu früh überfordern, der Leistungsdruck komme noch früh genug. Diesen ersten Lebensabschnitt finanzieren weitgehend die Eltern und die Allgemeinheit.
Überlastete Erwerbsphase
Dann folgt die Erwerbsphase, in der das Individuum den eigenen Lebensunterhalt und den der Kinder finanziert, für seinen Lebensabend anspart und mittels Umlageverfahren auch noch bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene ältere Mitbürger mitfinanziert. Da die Ausbildungsphase tendenziell länger wird und die Phase als Rentner wegen der Jahr für Jahr um rund einen Monat steigenden Lebenserwartung ohnehin, muss in der Erwerbsphase immer noch mehr geleistet werden. Diese Erwerbsphase ist zudem kürzer, als es das gesetzliche Rentenalter vermuten lässt. In den meisten Ländern liegt das effektive Rentenalter deutlich unter dem gesetzlichen, in der Schweiz bei unter 63 Jahren, im benachbarten Österreich gar bei unter 60 Jahren. Entsprechend ächzt die Erwerbsbevölkerung immer mehr unter wachsendem Leistungsdruck. Viele, die ambitiös und leistungswillig sind, werden zu «workaholics», Ehen gehen in die Brüche, Betreuung und Erziehung der Kinder werden vernachlässigt und ausgelagert, die Gesundheit leidet. Und dann kommt für viele wie eine Guillotine, für andere herbeigesehnt, der Tag der Pensionierung; nur noch Freizeit, das ganze Jahr Ferien, vielleicht auch innerliche Leere. Das grosse Lebensziel scheint die Rente zu sein (und unter dem Jahr die Ferien). Auf sie arbeitet man hin, auf sie freut man sich, endlich das Leben geniessen zu können, befreit von Stress und Leistungsdruck. Diese hier zugespitzt dargestellte Dreiteilung des Lebens ist Ausfluss der gleichen desintegrierten Denkweise wie der unsinnige Begriff Work-Life-Balance, so als ob die Arbeit nicht Leben wäre und das Leben erst ausserhalb der Arbeit anfinge. Wäre nicht ein Lebensentwurf sinnvoller, der Ausbildung zur Daueraufgabe machte, der während einer viel grösseren Lebensspanne Arbeit, Ausbildung und Freizeit in unterschiedlichem Ausmass mischen würde? Ein Weg, der den Menschen schon in der Mitte des Lebens neben der Arbeit mehr Platz liesse für Familie und Freizeit und der es ihnen umgekehrt erlaubte, auch mit 70 oder 75 (in Teilzeit) einer Arbeit nachzugehen? Es wäre die Abkehr vom Jugendlichkeitswahn und die Anerkennung der Erfahrung als Wert neben Leistungsfähigkeit.
Gesetzliches Rentenalter fatal
Natürlich passte ein solches Modell nicht auf alle Berufe und für alle Menschen, aber es dürfte vermutlich einer grossen Mehrheit besser entsprechen als die derzeitige Drittelung des Lebens. Das gesetzliche Rentenalter von 65, einst eine soziale Grosstat, hat sich längst als trojanisches Pferd erwiesen. Es ist nicht nur finanziell auf Dauer nicht mehr tragbar, es gibt auch das falsche Signal, ein Arbeitsleben lang zu schuften und sich zu verausgaben, um dann im Alter – endlich – die Früchte dieser Arbeit ernten zu können. Arbeit und Freizeit, Leistung und Konsum, Anstrengung und Erholung, Alltag und Feste gehören zusammen, nicht hintereinander, sondern nebeneinander. Das verlangt allerdings ein Umdenken bei Arbeitnehmern wie Arbeitgebern, es verlangt Rentenansprüche, die sich (abgesehen von Sozialfällen) an den Beiträgen orientieren, es verlangt Flexibilität, es verlangt die bessere Integration von Arbeit und Freizeit. Alles hat seine Zeit, heisst es beim Prediger Salomon. Aber wir sind in die Irre gegangen, als wir begonnen haben, die Zeit zwischen dem 30. und dem 60. Altersjahr zu sehr als Jahre der Erwerbsarbeit und die Zeit zwischen dem 60. und dem 90. Altersjahr zu ausschliesslich als Jahre des Geniessens zu definieren.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30. Juli 2011.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.