Die Schweiz gilt als offene, freiheitlich geprägte Volkswirtschaft mit starkem Schutz von Eigentum, geringer Korruption, günstigen Investitions- und Innovationsbedingungen, stabiler Währung und massvoll reguliertem Arbeitsmarkt. Gemäss gängigen ökonomischen Freiheitsindizes (wie etwa dem Economic Freedom of the World Index des Fraser-Instituts oder dem gemeinsam vom «Wall Street Journal» und der Heritage Foundation herausgegebenen Index of Economic Freedom) gehört die Schweiz weltweit zu den freiesten Volkswirtschaften überhaupt. Auch in Indizes wie dem Freedom in the World Index, die die Freiheit in einem Land insgesamt – also im ökonomischen und im zivilen Bereich – beurteilen, schneidet die Schweiz regelmässig hervorragend ab.
Dieses erfreuliche Resultat sollte indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die internationalen Freiheitsindizes nicht alle in der Schweiz bestehenden Einschränkungen und Bedrohungen der Freiheit erfassen: Die 26 Kantone der Schweiz geniessen grosse Autonomie und können in wichtigen ökonomischen und zivilen Politbereichen eigene Akzente setzen. Damit stehen sie in einem für den schweizerischen Föderalismus charakteristischen internen Standortwettbewerb. Gemeinsam mit den kleinräumigen Strukturen schafft dies optimale Voraussetzungen für innovative kantonale Lösungsansätze in wichtigen Bereichen des Gemeinwesens. Vom föderalistischen Wettbewerb betroffen ist nicht zuletzt die freiheitliche Ausgestaltung von kantonalen Gesetzen und Institutionen – nicht in allen Kantonen der Schweiz sind die Bürgerinnen und Bürger nämlich gleich frei. Manche Kantone kennen weitgehende Einschnitte in die zivile Freiheit ihrer Bürger (etwa bei der Videoüberwachung oder bei der freien Schulwahl), während andere mit hohen Steuern und Abgaben die ökonomische Freiheit ihrer Einwohner stark einschränken.
Genau hier setzt der Avenir-Suisse-Freiheitsindex an: Der zum zweiten Mal publizierte Index misst die freiheitliche Prägung von Gesetzen und Institutionen in den Kantonen der Schweiz. Er versammelt einige für die Kantone charakteristische Indikatoren ökonomischer und ziviler Freiheit und erfasst damit die in der Schweiz für die Ausgestaltung vieler Lebensbereiche entscheidende staatliche Ebene. Er zeigt, in welchen Bereichen die Kantone sich zu grösserer Freiheit entwickeln könnten, und er zeichnet ein feines Bild der regional und kantonal unterschiedlichen Ausprägung der Freiheitlichkeit von Gesetzen und Institutionen. Letztlich ist Freiheit jedoch ein subjektives Konzept und lässt sich nicht exakt messen. Ob etwa ein Gesetz als eine die persönlichen Handlungsoptionen beschneidende, unnötige Schranke empfunden wird oder nicht, mag jedes Individuum anders beurteilen. Aus diesem Grund ist der Avenir-Suisse-Freiheitsindex als interaktives Online-Tool angelegt: Durch einfaches Ein- und Ausschalten einzelner Indikatoren kann ein «personalisierter» Freiheitsindex der Schweizer Kantone erstellt werden.
Freiheit – ein relativer Begriff
Die philosophische Literatur unterscheidet einen positiven und einen negativen Begriff der Freiheit. Das Konzept der negativen Freiheit ist ein Opportunitätskonzept, wonach sich Freiheit im Vorhandensein möglichst vieler Handlungsoptionen manifestiert. Nach dem negativen Freiheitsbegriff ist ein Mensch frei, wenn sein Handeln nicht durch willkürliche, von aussen auferlegte Schranken behindert wird. Willkürlich ist eine Schranke, wenn sie nicht durch fundamentale Interessen anderer Individuen begründbar ist und im Effekt den Bewegungsspielraum anderer Individuen über Gebühr schützt.
Der negative Freiheitsbegriff kontrastiert mit einem positiv formulierten Begriff der Freiheit, wonach ein Individuum frei ist, wenn es sein Leben in Übereinstimmung mit seinem Willen gestalten kann. Positiv verstandene Freiheit ist gleichbedeutend mit Autonomie. Es geht nicht nur um die Absenz von Schranken (durchaus eine Voraussetzung für positive Freiheit), sondern um Freiheit im Sinne eines selbstbestimmten Lebens. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Freiheit oft in diesem positiven Sinn verstanden. Positive Freiheit lässt sich ungleich schwerer messen als negative Freiheit und eignet sich daher kaum für einen auf gesetzliche Unterschiede zwischen den Kantonen ausgerichteten Freiheitsindex. Eine gesellschaftliche Ordnung kann zwar die Voraussetzungen für Freiheit schaffen, aber kaum dafür sorgen, dass Individuen tatsächlich ein von gesellschaftlichen, familiären und psychischen Zwängen unabhängiges Leben führen. Wie die meisten anderen Freiheitsindizes beruht der Avenir-Suisse-Freiheitsindex aus diesem Grund auf einem negativen Freiheitsbegriff.
Kantone im Fokus
Um die negative Freiheit in den Kantonen der Schweiz zu messen, erfasst der Freiheitsindex von Avenir Suisse 12 ökonomische und 9 zivile Indikatoren. Im Bereich der ökonomischen Freiheit werden die vier Teilbereiche Steuern und Umverteilung, Staatsfinanzen, Marktinterventionen und Gewerberegulierungen betrachtet. Damit bildet der Index einerseits die kurz- und langfristige Verfügungsfreiheit über Privateigentum (Einkommen und Gewinne) ab und spiegelt anderseits die Präsenz des staatlichen Sektors in den kantonalen Volkswirtschaften. Die im Index abgebildeten zivilen Freiheiten decken die Teilbereiche Bildungswesen, Gesundheit und Prävention, Polizei- und Bauwesen sowie das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ab. All diese zivilen Lebensbereiche unterliegen der Kantonshoheit und können durch die gesetzgeberische Tätigkeit (zum Beispiel zu den Themen freie Schulwahl, Nichtraucherschutz oder Videoüberwachung) unterschiedlich reguliert werden.
Zwei Punkte sind für das Verständnis des Avenir-Suisse-Freiheitsindexes von Bedeutung. Erstens handelt es sich um einen relativen Index, der für jeden Kanton seine freiheitliche Prägung im Vergleich zum Kantonsdurchschnitt ausweist. Der Kantonsdurchschnitt ist als Referenzwert auf 50 Punkte festgelegt (vgl. Grafik). Ein Resultat von mehr als 50 Punkten zeigt also an, dass ein Kanton im Durchschnitt über alle Indikatoren freiheitlicher ausgestaltet ist als der Kantonsdurchschnitt und vice versa. Gewisse in den Freiheitsindex einfliessende Indikatoren (z.B. Häufigkeit von fixen Radaranlagen, Steuerausschöpfung) erlangen erst im Lichte der relativen Natur des Freiheitsindexes ihre eigentliche Bedeutung. Während beispielsweise die Strassen in allen Kantonen als ähnlich sicher eingestuft werden können, ist es eine Tatsache, dass sich der Einsatz von fixen Radaranlagen (die ohne Zweifel einen Beitrag zum Ziel «Sicherheit im Strassenverkehr» leisten können) kantonal stark unterscheidet. Ein deutlich überdurchschnittlicher Einsatz von Radaranlagen lässt sich folglich in den wenigsten Fällen mit rein sicherheitspolitischen Motiven begründen. Viel eher muss in einem solchen Fall davon ausgegangen werden, dass Radaranlagen in einem Ausmass eingesetzt werden, das in keinem Verhältnis zum – auch aus liberaler Sicht legitimen – Ziel des Schutzes von Dritten im Strassenverkehr steht und in diesem Sinne eine ungebührliche Einschränkung der zivilen Freiheit darstellt. Ähnlich verhält es sich mit wirtschaftspolitischen Grössen wie der Steuerausschöpfung oder der Staatsquote, deren kantonal unterschiedliche Ausprägung erst im Vergleich mit den anderen Kantonen zu einem aussagekräftigen ökonomischen Freiheitsindikator wird.
Zweitens fokussiert der kantonale Freiheitsindex auf gesetzliche und institutionelle Freiheitsbeeinträchtigungen und lässt Freiheitseinschränkungen, die aus sozialen Normen resultieren, ausser Acht. Diese Fokussierung beeinflusst das Resultat des Indexes dahingehend, dass urbane Kantone tendenziell als unfreier bewertet werden als ländliche. Kantone mit urbanen Zentren weisen eine im Durchschnitt deutlich höhere Bevölkerungsdichte auf, wodurch das Handeln einzelner zivilgesellschaftlicher Akteure sehr viel rascher Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten anderer hat. Die daraus resultierende grössere potentielle Reibungsfläche führt in vielen Fällen zu einer dichteren Regulierung der zivilen Lebensbereiche in städtisch geprägten Kantonen. Weil der Freiheitsindex auf gesetzliche Freiheitseinschränkungen fokussiert, können urbane Kantone diese grössere Regulierung auch nicht durch die in städtischen Gebieten oftmals ausgeprägtere kulturelle und soziale Offenheit wettmachen.
Aargau ist der freiste Kanton
Wie steht es nun um die Freiheit in den einzelnen Schweizer Kantonen? Das diesjährige Freiheitsranking, das aufgrund von Daten aus dem Jahr 2012 erstellt wurde, wird erneut vom Kanton Aargau angeführt (siehe Grafik), der sich mit deutlichem Abstand vor den Kantonen Schwyz, Glarus, den beiden Appenzell und Nidwalden positioniert und sowohl im ökonomischen als auch zivilen Bereich glänzend abschneidet. Der zweitplazierte Kanton Schwyz erreicht für die ökonomischen Indikatoren beinahe die Werte des Spitzenreiters Aargau, liegt aber im zivilen Bereich nur wenig über dem Kantonsdurchschnitt. Während Glarus, Appenzell a.Rh. und Nidwalden im ökonomischen und zivilen Bereich deutlich überdurchschnittlich abschneiden, setzt sich das gute Resultat des Halbkantons Appenzell i.Rh. aus einer überdurchschnittlichen zivilen und einer durchschnittlichen ökonomischen Freiheit zusammen. Das breite Mittelfeld wird angeführt vom Kanton Jura, dessen überdurchschnittliches Resultat durch einen Spitzenwert im zivilen Teil des Freiheitsindexes zustande kommt, und umfasst neben dem Tessin die meisten Deutschschweizer Mittellandkantone. Im unteren Mittelfeld liegen neben den Ostschweizer Kantonen St. Gallen und Thurgau auch die Westschweizer Kantone Fribourg, Bern, Neuenburg und die Waadt. Während die beiden Ostschweizer Kantone durch grosse zivile Freiheitsbeeinträchtigungen auffallen, erklärt sich das im Kantonsvergleich unterdurchschnittliche Resultat der Westschweizer Kantone umgekehrt mit dem schlechten Abschneiden im ökonomischen Bereich. Das Schlusslicht des Freiheitsindexes bilden wie bereits im letzten Jahr die Kantone Uri, Graubünden und Genf, die aus ökonomischer und ziviler Warte klar unterdurchschnittlich abschneiden.
Freiheit – ein Wert an sich
Freiheit ist per se ein Wert, den es in der Ausgestaltung von ökonomischen und zivilen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen gilt. Er besteht darin, dass Freiheit den Individuen maximale Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet. Auf der zivilen Ebene bedeutet Freiheit die Möglichkeit, selbstverantwortlich Werte- und Lebensmodelle zu wählen, auszuprobieren und womöglich zu verwerfen. Ein Staat garantiert zivile Freiheit, indem er es unterlässt, gewisse Lebensformen (positiv oder negativ) zu diskriminieren. Im ökonomischen Bereich steht Freiheit für den Wettstreit von Ideen, Prozessen und Produkten, für die Einsicht, dass komplexe wirtschaftliche und soziale Prozesse kaum gesteuert werden können, sowie für die Garantie des Eigentums als Voraussetzung und zugleich Verkörperung der Verfügungsfreiheit von Individuen.
Viele Freiheitseinschränkungen finden ihren Anfang auf der Kantonsebene und verbreiten sich danach in der ganzen Schweiz. Der Avenir-Suisse-Freiheitsindex soll solche negativen Dynamiken – zu nennen sind etwa die zunehmenden staatlichen Wohnbauinvestitionen, der ausgeprägte Nichtraucherschutz oder laschere Auflagen für die staatliche Videoüberwachung – systematisch und frühzeitig erfassen. Gleichzeitig illustriert der Freiheitsindex aber auch, wie die föderalistische Struktur der Schweiz durchaus als Experimentierfeld für mehr wirtschaftliche und zivile Freiheit genutzt werden kann. So zeigt der Index auf, wie die positiven Erfahrungen einiger Kantone – zum Beispiel mit dem Instrument der Schuldenbremse – eine Entwicklung hin zu griffigeren Haushaltsregeln ausgelöst haben. Solche Dynamiken sind wünschenswert und sollen durch den Avenir-Suisse-Freiheitsindex sichtbar gemacht werden. Indem er den Kantonen ihre vielzähligen Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt und unliberale Tendenzen durchwegs als Freiheitsbeschneidungen benennt, soll der Avenir-Suisse-Freiheitsindex so auch als Kompass auf dem Weg zu einer freiheitlicheren Ausgestaltung von kantonalen Gesetzen und Institutionen fungieren.
Dieser Beitrag erschien in «Gelebter Föderalismus», einer gemeinsamen Sonderpublikation vom Schweizer Monat und von Avenir Suisse.