Wer sich politisch gegen die Weiterentwicklung unserer direkten Demokratie stellt, verweist allzu gerne auf den Souverän. So sagte jüngst eine klare Mehrheit im Aargauer Kantonsparlament Nein zum Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene. Die Schweiz gehöre ausschliesslich den Schweizern, so die markigen Worte in der Parlamentsdebatte. Damit wird weiterhin einem Viertel der Bevölkerung die politische Mitwirkung auf Gemeindeebene verwehrt, obwohl unser Milizsystem dringend auf Nachwuchs angewiesen wäre.
Gibt es Bestrebungen zur verstärkten digitalen Teilhabe des Souveräns an Wahlen und Abstimmungen, schiebt «Bundesbern» Sicherheitsbedenken vor – selbst wenn fast alle Einwohner über ein Handy verfügen und die Bankgeschäfte digital abwickeln. Anstatt mit E-Voting vorwärtszumachen, verschob die Landesregierung während des Lockdowns lieber gleich die eidgenössische Volksabstimmung.
Der Bundesrat und selbst ein Tamedia-Kolumnist ziehen die direktdemokratischen Volksrechte als Begründung heran, um das Davonlaufen vom Verhandlungstisch beim InstA zu rechtfertigen. Es gehe um den Schutz der direkten Demokratie, und das Abkommen hätte in einer Volksabstimmung sowieso keine Chance, so die Argumentation. Damit wird im Land der direkten Demokratie ein Parlamentsbeschluss mit fakultativem Referendum und die Mitbestimmung des Souveräns in der seit Jahrzehnten gewichtigsten europapolitischen Sachfrage verunmöglicht – über den vermeintlichen Volkswillen wird in gouvernementaler Bevormundung einfach spekuliert.
Doch das krampfhafte Festhalten am Status quo ist weder in der Europapolitik noch bei der Ausgestaltung der Volksrechte zielführend: Zur Wesensart unserer Demokratie gehört ihre stetige Weiterentwicklung – auch wenn solche Erneuerungsprozesse oft langwierig sind. Die Einführung des Frauenstimmrechts brauchte über Jahrzehnte hinweg mehrere Anläufe, bevor die Männer 1971 schliesslich zustimmten. Weitere sechs Jahre vergingen, bis das Unterschriftenquorum infolge Verdoppelung des Stimmkörpers angepasst wurde.
Und wer sich über den behördlichen Widerstand gegen E-Voting wundert, sei an die Einführung der brieflichen Stimmabgabe erinnert. In den 1930er Jahren trat das eidgenössische Parlament auf das Geschäft gar nicht erst ein. Heute üben geschätzt mehr als 90% der Stimmberechtigten ihre demokratische Mitsprache brieflich aus. Beim erstmaligen versuchsweisen Einsatz von E-Voting nutzte bereits die Hälfte der Berechtigten den digitalen Abstimmungskanal. Deutschschweizer Volksvertreter, die sich über das kommunale Ausländerstimmrecht echauffieren, sollten einen Blick in die Romandie werfen: Dort ist das Prinzip «No taxation without representation» seit langem verbreitet.
Der Souverän ist nicht nur pragmatischer, sondern meist auch offener für neue Entwicklungen – auch in der Europafrage. In rund einem Dutzend Urnengängen zeigte sich die Stimmbevölkerung wiederholt sachorientiert im Wissen darum, dass die integrative Mitwirkung der Schweiz am EU-Binnenmarkt mit zahlreichen individuellen und ökonomischen Vorteilen verbunden ist. Weder in der Schweizer Demokratie noch in der Europapolitik braucht es daher ein Einfrieren des Bestehenden, sondern vielmehr eine umfassende Frischzellenkur.
Dieser Text ist als Gastbeitrag bei Tamedia erschienen.