Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise, also seit über zehn Jahren, befinden sich die Schweizer und die europäische Geldpolitik im Krisenmodus. Neben der grossen Bilanz der Nationalbank verdeutlichen dies hierzulande am auffälligsten die seit vier Jahren geltenden Negativzinsen. Kritik rufen diese nur schon deshalb hervor, weil sie das im Bewusstsein der Gesellschaft verankerte Prinzip, wonach der Sparer «belohnt» werden muss, unterminieren. Wie hoch die Teuerung ist, spielt dabei keine Rolle, man spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Phänomen der «Geldillusion». Viele Stimmen forderten deshalb in den vergangenen Wochen eine geldpolitische Umkehr, weg von den Negativzinsen in der Schweiz, bzw. weg von der Nullzinspolitik in der Eurozone.
Die Funktionsweise moderner Zentralbankpolitik und ihre Kommunikation bringen es aber mit sich, dass ein solcher Politikwechsel ohne Glaubwürdigkeitsverlust nicht möglich ist. Sowohl die SNB als auch die EZB verfügen über ein klares Mandat zur Sicherstellung der Preisstabilität. Die Stabilisierung der Konjunktur ist als Ziel nachgelagert – dies im Gegensatz zu den USA, wo das FED die beiden Ziele gleichrangig behandeln muss. Entsprechend dürfen für SNB und EZB Überlegungen, die Zinspolitik auf eine allfällige zukünftige Rezession auszurichten, nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Preisstabilität – gegenwärtig als Stabilität der Konsumentenpreise verstanden – bedeutet im Jargon der Zentralbanken, dass sie ein Inflationsziel anstreben. Die EZB versucht dabei eine Punktlandung mit einem Ziel «nahe aber unter 2%», die SNB gibt sich mehr Spielraum und peilt ein Zielband von 0-2% Inflation an, was wohl eher den tatsächlichen Möglichkeiten einer Zentralbank entspricht. Die Ausrichtung der Geldpolitik ist an die mittelfristige Erfüllung dieser Inflationsziele gebunden. Ob dies aktuell der Fall ist, zeigt regelmässig die Inflationsprognose der jeweiligen Notenbank.
Eigene Inflationsprognose verunmöglicht faktisch Leitzinsanpassung
Genau hier liegt nun aber das Problem: Die eigenen Prognosen von EZB und SNB zeigen keine Notwendigkeit für einen geldpolitischen Kurswechsel, eher im Gegenteil. Gerade im Falle der SNB ist dies nicht so einfach nachvollziehbar, da sie mit bedingten Inflationsprognosen arbeitet (d.h. unter Annahme eines in der Zukunft unveränderten Leitzinses). Solange diese bei gegebenem Leitzins das Inflationsziel mittelfristig nicht verletzt, entspricht die aktuelle Geldpolitik den eigenen Zielvorgaben. Die Ausrichtung der Geldpolitik an Inflationsziel und -prognose macht die Zentralbanken für Märkte, Unternehmen und Konsumenten berechenbar, was für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik entscheidend ist. Auch die Inflationsprognose ist keine «Black Box», sondern es ist prinzipiell bekannt, welche ökonomischen Modelle dieser zugrunde liegen.
Diese Berechenbarkeit macht es für die SNB oder die EZB schwierig, einen Politikwechsel durchzuführen, weil er eben der eigenen Inflationsprognose widerspräche. Finanzmärkte und Wirtschaftsteilnehmer wären extrem verunsichert, das Vertrauen in die entsprechende Zentralbank würde für längere Zeit leiden, was zu Volatilität sowohl an den Finanzmärkten als auch in der Realwirtschaft führte und weiteres Agieren der Zentralbank nachhaltig erschwerte. Nationalbanken sollten aber selbst nicht Quelle der Unsicherheit sein, sondern zur makroökonomischen Stabilität beitragen.
Allerdings liegen die Gefahren der aktuellen Politik auf der Hand. Negativzinsen und «Quantitative Easing» (QE) verzerren bewusst Marktpreise. So haben sie die Risikoprämien sinken lassen, was eine Gefahr für zukünftige, gefährliche Wertkorrekturen auf den Wertschriftenmärkten darstellt. Auch haben sie dazu geführt, dass die Zentralbanken viel stärker unter politischem Druck stehen als noch ein paar Jahre zuvor und auch immer mehr Vorschläge aufs Tapet kommen, die letztlich die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken in Gefahr bringen könnten. In der Schweiz zeugt die jüngste Idee, wonach Erträge aus Negativzinsen teilweise an Pensionskassen fliessen sollen, hiervon. Und international wird wiederholt gefordert, Bargeld so unattraktiv zu machen, damit es keine Untergrenze mehr für Negativzinsen gäbe. Ein Überdenken der bisherigen Geldpolitik tut daher not. Zwei Argumente stehen dabei im Vordergrund.
Wirkt eine Zinserhöhung in jedem Fall deflationär?
Erstens stellt sich die Frage, ob die für die Inflationsprognose verwendeten Modelle korrekt mit der aktuell aussergewöhnlichen Phase «umgehen» können. Zwar ist aufgrund der Inflationserwartungen keine restriktivere Geldpolitik angezeigt, es ist aber nicht ganz klar, ob tiefere Negativzinsen (bzw. das QE) überhaupt eine deflatorische Wirkung haben. In den von Zentralbanken verwendeten ökonomischen Modellen ändert sich der prinzipielle Wirkmechanismus der Zinspolitik im negativen Bereich in der Regel nicht, obwohl eine Zinserhöhung in Richtung Null kaum zu einer Erhöhung der Kreditzinsen der Banken führen würde. Genau diese Nicht-Reaktion der Kreditzinsen hat man nämlich beobachtet, als die Negativzinsen eingeführt wurden. Neuere makroökonomische Ansätze betonen überdies, dass Zinserhöhungen nach so ausgedehnten Tiefzinsphasen sogar einen positiven Einfluss auf die Inflation und die Produktivität besitzen. Allerdings spielt für die Schweiz der Wechselkurskanal eine enorm bedeutende Rolle. Ein geldpolitischer Kurswechsel – besonders wenn er abrupt erfolgt – könnte zu einer so starken Aufwertung des Frankens führen, dass die Wirkung auf die Preisentwicklung doch wieder klar negativ ausfiele.
Gerade auch vor diesem Hintergrund müsste daher zweitens überlegt werden, ob die aktuelle Art der Kommunikation die beste ist. Auch wenn die SNB ein Zielband der Inflation anpeilt, teilt sie eine Punktprognose der Inflation mit. Die Abstützung auf Punktprognosen bringt Berechenbarkeit, lässt aber auch weniger Flexibilität. Denkbare Alternativen bzw. Erweiterungen wären beispielsweise die Kommunikation von Vertrauensintervallen oder von erwarteten zukünftigen Entwicklungen des Leitzinses. Der «Pfad» der Geldpolitik wäre damit zwar offener und für die Marktteilnehmer unsicherer, gäbe der Zentralbank aber mehr Spielraum. Im besten Fall könnte eine entsprechende Anpassung der Marktkommunikation dafür die «Forward Guidance» – also die Kommunikation zukünftiger geldpolitischer Absichten – vereinfachen.
Die skizzierten Anpassungen kämen gewissermassen einer Änderung der aktuellen geldpolitischen Strategie gleich. Eine solche kann nicht über Nacht passieren, müsste sie doch selbstredend auch in Zeiten einer geldpolitischen Normalisierung Bestand haben und den Marktteilnehmern gut begründet kommuniziert werden. In Anbetracht der gegenwärtigen Situation wären entsprechende Überlegungen im Gegensatz zu geldpolitischen Schnellschüssen aber durchaus angebracht.
Dieser Beitrag ist in gekürzter Form am 4.4.2019 in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen.