Als Kristallisationspunkt der politischen Identität in der Schweiz wird oft die «heilige Trilogie» aus direkter Demokratie, Föderalismus und Milizwesen genannt. Letzteres umfasst bürgerliche Tätigkeiten für den Staat im Rahmen der Armee und anderer öffentlicher Institutionen. Das Milizwesen ist das verkannteste und am wenigsten gewürdigte Element unter den Dreien: Das tägliche, oft verborgene Wirken in den Gemeinden äussert sich weit weniger spektakulär als beispielsweise eine Volksabstimmung oder der föderale Wettbewerb unter den Kantonen.

Mehr als nur ein System

Gleichwohl erweist sich die Schweiz durchdrungen vom Milizgedanken. Anschaulichstes Beispiel ist die Armee: Die Schweizerinnen und Schweizer haben sich bereits mehrfach gegen eine Berufsarmee ausgesprochen. Das Milizwesen ist nicht bloss ein «System», sondern ein kultureller Wert erster Güte. Das gemeinnützige Engagement der Bürgerinnen und Bürger könnte als Grundlage des Schweizer Politikmodells bezeichnet werden, und das Subsidiaritätsprinzip ist tief in unserer politischen Kultur verwurzelt.

«Wenn sich drei Schweizer treffen, dann gründen sie einen Verein», sagt man. Die Historikerin Béatrice Schumacher hat unser Land in der Zeitschrift «NZZ Geschichte» (Oktober 2017) als «Land der Vereine» beschrieben – ein Faktor, der die Schweiz im Innersten zusammenhalte. Die politische Ideengeschichte und die Geschichte sozialer und politischer Bewegungen  ist untrennbar verbunden mit dem Vereinswesen – vom Männerbund bis zu den Hilfswerken, Schützenvereinen, feministischen Komitees, Jassclubs und weltweit tätigen NGO.

Gleichwohl scheint der Milizgeist immer weniger attraktiv. Gemäss dem letzten Freiwilligenmonitor der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft aus dem Jahre 2016 geht der Bestand an Personen, die sich im Rahmen von institutioneller Freiwilligenarbeit betätigen, leicht, aber konstant, zurück (vgl. Grafik). In diesen Bereich gehören Tätigkeiten innerhalb von Vereins- und Organisationsstrukturen. Die informelle Freiwilligenarbeit, worunter soziale Unterstützung und persönliche Hilfsdienste fallen, bleibt zwar stabil, die investierte Zeit dafür nimmt jedoch ab.

Milizgedanke unter Druck

Lange Zeit war auch die Politik geprägt vom Milizsystem. Aber das Idealbild, wonach die Mehrheit der Politiker ihr Amt ehrenamtlich ausübt, entspricht nicht mehr der Realität (vgl. «Bürgerstaat und Staatsbürger»). Gegen die Hälfte aller Bundesparlamentarier sind heute als Vollzeitpolitiker tätig. In den kantonalen Parlamenten ist die Zahl von Milizpolitikern zwar noch hoch, allerdings ist ihre durchschnittliche Amtszeit kürzer als die der Bundespolitiker. Offenkundig ist überdies, dass kleine und mittlere Gemeinden Schwierigkeiten bei der Besetzung ihrer Behördenämter haben.

Auch andere Bereiche zeigen eine ähnliche Trendentwicklung. Nehmen wir zum Beispiel die Feuerwehr: In der Schweiz kommt eine kleine Zahl von Berufsfeuerwehrleuten auf Zehntausende von Freiwilligen, die rekrutiert, ausgebildet und im Dienst gehalten werden müssen. Der Schweizerische Feuerwehrverband ist bezüglich der Bestände alarmiert. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl freiwilliger Feuerwehrleute von 150’000 auf 85’000 beinahe halbiert – und dies bei wachsender Anzahl Einsätze. Wie sollen so die Aufgaben trotzdem erfüllt werden?

Beunruhigend ist die Situation vielerorts. Es stellt sich die Frage, wie sich genügend Freiwillige finden und motivieren lassen, um karitativ, sozial und kulturell tätige Vereine, religiöse Gruppen oder aber auch die paritätischen Kommissionen in der beruflichen Vorsorge und in der Arbeitswelt am Leben zu erhalten.

Bürgerliches Engagement im Wandel

Die Versuchung ist gross, die Verflüchtigung des Milizgeistes als Folge eines übersteigerten, durch die Digitalisierung verstärkten Individualismus im 21. Jahrhundert zu sehen. Dies würde aber bedeuten, der Entwicklung eine zu grosse moralische Dimension beizumessen und das Verhalten in der Vergangenheit zu idealisieren. Pragmatisch bleibt festzustellen, dass die Attraktivität traditioneller Miliztätigkeiten abgenommen hat.

Anziehungskraft entsteht immer dort, wo gemeinnützige und persönliche Interessen zusammentreffen. In der Vergangenheit, als es noch keine «Business Schools» oder höhere Fachschulen gab, boten Karrieren als Offizier in der Armee, als Gemeinderat oder als Feuerwehrmann Möglichkeiten, sich weiterzubilden und ein nützliches persönliches und berufliches Netzwerk aufzubauen. Bildungserwerb und Netzwerkbildung sind heute auf effektivere Art und Weise und in anderen Umgebungen möglich; die Konkurrenz hat für das Milizwesen massiv zugenommen.

Darüber hinaus haben sich die Lebensumstände und Verhaltensweisen zuungunsten des traditionellen bürgerlichen Engagements geändert. Die Flexibilisierung unserer Lebensumstände lässt sich je länger desto weniger mit den starren Strukturen der formellen Freiwilligenarbeit in Übereinstimmung bringen. Die begrüssenswerte Zunahme der Zahl erwerbstätiger Frauen führt dazu, dass sie nicht mehr im gleichen Umfang das «Backoffice» ihrer im Milizdienst tätigen Männer managen können. Auch das Pendeln zur Arbeit schränkt die Verfügbarkeit für lokales Engagement in der Wohngemeinde ein, z.B. im Gemeinderat oder der Feuerwehr: Nur noch 30 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer arbeiten und wohnen in der gleichen Gemeinde.

Anderseits entstehen durch die gesellschaftlichen Entwicklungen und die digitalen Technologien neue Formen und Möglichkeiten gemeinnützigen Engagements und bürgerlicher Partizipation (vgl. «Die neuen Freiwilligen», GDI 2018). Die Einführung eines allgemeinen Bürgerdienstes, der im Prinzip obligatorisch, aber freiheitlich in der Ausgestaltung wäre, könnte das Milizwesen wesentlich fördern und aufwerten – sowohl bezüglich der unter Druck geratenen traditionellen Miliztätigkeiten als auch hinsichtlich neuer Formen der Partizipation.

Dieser Beitrag ist Teil der Publikationsreihe «Miliz heute».