Der internationale Währungsfonds (IWF) publiziert halbjährlich für so gut wie alle Länder seine Wirtschaftsprognosen mit dem Zeithorizont von fünf Jahren. Diese Prognosen sind ironischerweise vor allem in der Retrospektive sehr interessant und aufschlussreich. Sie zeigen nämlich eindrücklich auf, wie unfähig die Menschheit ist, Wirtschaftskrisen vorauszusehen – ja, nicht nur Krisen, sondern auch positive «Schocks».

Klar mag man jetzt einwenden, das sei logisch, denn der Charakter einer Krise liege ja genau in der Unvorhersehbarkeit – sähe man sie kommen, wäre sie womöglich zu verhindern. Und doch: Wir halten die Welt generell für deutlich prognostizierbarer, als sie in Wirklichkeit ist. Das zeigen die übereinandergelegten IWF-Prognosen der letzten zwölf Jahre zur Entwicklung des BIP pro Kopf. Um einen guten Vergleich zwischen den Ländern zu ermöglichen, ist in den vorliegenden interaktiven Grafiken das (inflationsbereinigte) BIP auf das Jahr 2007 – also knapp vor Ausbruch der Finanzkrise – indexiert. Die Daten in der Grafiklegende entsprechen dem Prognosedatum der jeweiligen BIP-Linie. Zur Auswahl stehen Ihnen 25 Länder, deren Wirtschaften entweder besonders wichtig sind oder die besonders spannende Muster in den Prognoseveränderungen aufweisen. Aus diesen können Sie sich in der Grafik beliebige Ländervergleiche selber zusammenstellen. Um die Anzahl der Prognoselinien im überschaubaren Bereich zu halten, wurde nur jede zweite bzw. dritte Prognose verwendet.

Grafik Lesebeispiel

Klickt man auf den Prognosezeitpunkt «April 2008», zeigt die rote Kurve das BIP-Wachstum bis 2008 und das damals prognostizierte Wachstum. Klickt man anschliessend auf «April 2009», zeigt die Grafik die revidierte Wachstumskurve.

Hier stellvertretend drei besonders auffällige Beispiele zu Fehleinschätzungen:

  • Griechenland wurde im Frühjahr 2008 – wie vielen anderen Ländern – stabiles, anhaltendes, hohes Wachstum vorausgesagt, obwohl die Finanzkrise damals in den USA schon ausgebrochen war. 2009 wurde dann eine leichte Rezession diagnostiziert (nein: nicht «prognostiziert», denn da war man schon mitten drin im Abschwung), und in den folgenden sechs Jahren musste man Schritt für Schritt ein immer grösseres Ausmass des BIP-Einbruchs eingestehen – von Prognosen kann abermals keine Rede sein, denn diese lauteten jeweils auf eine Erholung ab dem Folgejahr. Auch nach tatsächlichem Durchschreiten des Talbodens (im Jahr 2013) musste die BIP-Wachstumsrate mehrfach nach unten korrigiert werden. Beim derzeitigen Wachstumstrend erreicht Griechenland im Jahr 2033 wieder das Pro-Kopf-BIP von 2007. Unterm Strich also 26 Jahre Nullwachstum. Fast noch eindrücklicher: Bei Fortsetzung des 2007 prognostizierten Wachstumstrends läge man 2033 bei 234% des BIPs von 2007.
  • Auch in Irland waren die Prognosen keine Prognosen, sondern hechelten Realitäten nach. Der keltische Tiger schien mit der Finanzkrise seine Krallen zu verlieren. Noch im April 2015 wurde für ebenjenes Jahr bloss eine sanfte Erholung (Verlangsamung gegenüber 2014) prognostiziert, obwohl Irland schon mitten im Jahr des historischen BIP-Wachstumsrekords von 24% (!) stand, was es zurück auf den 2008 prognostizierten Wachstumspfad und darüber hinaus katapultierte.
  • Auch für Südafrika sah die Prognose von 2008 noch eitel Sonnenschein und die typischen hohen Wachstumsraten eines Schwellenlandes. Die Finanzkrise hinterliess dann eine deutliche Delle im BIP-Wachstum, doch nicht sie hat jegliche Wachstumsimpulse eliminiert, sondern die Misswirtschaft und die kleptokratische Regierungsführung des 2018 zum Rücktritt gezwungenen Jacob Zuma. Heute sind vor allem die Staatskonzerne in einem fürchterlichen Zustand. Bezeichnend ist, dass das IWF-Barometer noch im Herbst 2013 auf «solides Wachstum» stand, obwohl schon in ebenjenem Jahr das tatsächliche BIP (wie sich dann später herausstellte) um 5 Prozentpunkte tiefer lag als damals angenommen. Zuma war zu diesem Zeitpunkt immerhin schon vier Jahre im Amt. Dass die Gefahren seiner Politik für das Wirtschaftswachstum derart verkannt wurden, zeigt die Limiten der angewendeten Prognosemodelle deutlich auf.

Blick in die Vergangenheit

Die Analyse dieser Prognosen erlaubt also einen intensiven Blick in die Vergangenheit der Länder. Der Abgleich von Erwartung und Realität ist Mal für Mal aufschlussreich und zeigt, wann sich in einem Land Umschwünge ergeben haben (deren Prognose ebenso Mal für Mal ausblieb). Die dargestellten Zahlen ermöglichen aber auch weitere bemerkenswerte Rückschlüsse:

BIP pro Kopf im Jahr 2024, in % von 2007 (IWF-Prognose von Oktober 2019)
CHN
INDIDNPOLIRLRUSNGRDEUUSAPORAUSBRAMEXSWEJAPFRAESPCANUKNORISLSUIRSAITAGRE
307.4257.4199.1175.4159.8125.8122.8120.7118.6116.9116.5116.4115.4114.1113.1111.9111.3110.5110.3108.2108.0107.0100.897.086.9

Erstens: An sich banal – und trotzdem erwähnenswert: Die Wachstumsunterschiede zwischen den Ländern sind enorm. Während Chinas Pro-Kopf-BIP 2024 gemäss der aktuellen IWF-Prognose 307% des Wertes von 2007 erreichen wird (und heute schon 240% erreicht hat), wird Griechenlands Wohlstand mit 87% noch immer deutlich unter dem Vorkrisenniveau von 2007 liegen.

Zweitens: Die Wirtschaftskrise und weitere regionale oder länderspezifische Krisen haben verbreitet zu immensen Wohlstandseinbussen gegenüber der davor ausgemalten Zukunft geführt.

  • Extremes Beispiel ist – neben dem schon erwähnten Griechenland – Nigeria, dessen Wirtschaft seit 2015 stark schrumpft, statt – wie noch in ebenjenem Jahr prognostiziert – rasant wächst. Für 2024 ist neu ein BIP von 122% (des 2007er-Werts) prognostiziert, während eine Fortsetzung früherer Prognosetrends 202% ergeben hätte. Ähnliche Diskrepanzen ergeben sich für Brasilien(116% vs. 180%) und in noch extremerem Ausmass für Russland (125% vs. 291%).
  • Ein in Sachen Prognosesprünge unauffälliges Land wie Australien wird das in der 2008er-Vorhersage für 2013 prognostizierte BIP von 113% erst nächstes Jahr, also mit 8 Jahren Verspätung, erreichen – so denn nicht noch einmal etwas dazwischenkommt. Frankreich hat sogar zehn Jahre «verloren», Mexiko 12, Norwegen 13, und Italien wird das Niveau von 2007 gemäss aktuellen Prognosen erst im Jahr 2028 wieder erreicht haben und damit sogar 21 Jahre verlieren. Und die nächste Delle steht schon vor der Tür. Wie gross die wirtschaftlichen Auswirkungen von Corona sein werden, weiss noch niemand.

Wachstumsschwäche der Schweiz

Drittens: Die Schweiz hat eine ausgeprägte Wachstumsschwäche. Bisher haben Sie von der Schweiz in diesem Beitrag nichts gelesen. Möglicherweise dachten Sie, es gäbe über sie nichts Spektakuläres zu berichten. Und diese Vermutung liegt durchaus nahe angesichts der weltweiten, medial intensiv diskutierten Krisen und Unruhen, vor deren Hintergrund einem die Schweiz fast noch stärker als früher wie eine Insel der Glückseligen vorkommen mag. Aber genau das Gegenteil ist – zumindest bezogen auf das Wohlstandswachstum – der Fall: Auch für die Schweiz musste der IWF die Wachstumspfade Mal für Mal «nach aussen» schieben. Und sie steht in Sachen Wachstumsdynamik ganz weit hinten in der Rangliste dieser 25 Länder. Um jene 109% der Pro-Kopf-Wertschöpfung von 2007 zu erreichen, die in der 2008er-Prognose für das Jahr 2013 prophezeit wurden, müssen wir gemäss dem zuletzt prognostizierten, schrecklich flachen Wachstumspfad noch bis zum Jahr 2030 warten! Und das alles ohne grosse Krise. Das schafft kein anderes Land.

Die Schweiz mag die Finanzkrise gut durchschifft zu haben, wir haben eine ziemlich geringe Arbeitslosigkeit, keine politischen Unruhen, und die Staatsfinanzen sind bemerkenswert gesund. Und selbstverständlich haben wir die schönsten Berge und blauesten Seen. Doch messbares Wirtschaftswachstum auf anständigem Niveau: Das haben wir nicht.