2013 kostete das Schweizer Gesundheitswesen 70 Mrd. Fr. Und es wird von Jahr zu Jahr mehr. Dabei spielt die Alterung der Gesellschaft eine Rolle, aber auch, dass Krankheiten wie Krebs sich immer besser kontrollieren lassen und sich zu einem chronischen Leiden entwickeln. Was bedeutet der Trend von der akut kurativen Medizin zur chronischen Langzeit-Behandlung? Können Pharma-Innovationen oder Prävention auch dazu beitragen, das Kostenwachstum zu bremsen? An einer Abendveranstaltung diskutierten Prof. Dr. Frank Lichtenberg (Columbia University), Prof. Dr. Thomas Zeltner (ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Gesundheit) und Prof. Dr. Edouard Battegay (Universitätspital Zürich, Kompetenzzentrum Multimorbidität) auf Einladung von Avenir Suisse über die künftigen Schwerpunkte in der Medizin. Die Diskussionsrunde wurde von Avenir-Suisse-Gesundheitsspezialist Jérôme Cosandey moderiert.
Gewonnene Lebensjahre
Die kürzlich erschienene Studie «The impact of pharmaceutical innovation on premature cancer mortality in Switzerland, 1995–2012» von Prof. Dr. Frank Lichtenberg zeigt den Nutzen von Pharma-Innovationen, mit denen sich kostengünstig eine deutliche Senkung der Krebsmortalität erreichen lässt. Der Ökonom weist einen inversen Zusammenhang zwischen der Anzahl entgangener Lebensjahre (Premature mortality years) und der Entwicklung neuer Medikamente nach. Die Sterberate sank in der Schweiz bei denjenigen Krebsarten am stärksten, wo am meisten Medikamente neu registriert wurden. Gemäss Lichtenberg gewann die Schweiz 2012 über 17’000 Lebensjahre dank neuen Medikamenten, die zwischen 1990 und 2007 registriert wurden. Zwischen der Entwicklung einer neuen Therapie und deren statistisch nachweisbaren Nutzen besteht eine Zeitverzögerung von fünf bis fünfzehn Jahren, weil es eine gewisse Zeit braucht, bis ein neues Medikament breite Anwendung findet. Lichtenberg ist überzeugt, dass die steigende Lebenserwartung vor allem auf Innovationen zurückzuführen sei.
Gutes, aber teures Gesundheitswesen
Thomas Zeltner gab zu bedenken, dass es einfacher und auch gesellschaftlich akzeptierter sei, in das kurative System zu investieren, als in die Prävention von Krankheiten. «In den USA redet man heute darüber, Krebs zu heilen», sagte er. Doch was tun mit den gewonnenen Lebensjahren? Zu oft würden die geheilten Patienten in die Lebensumstände zurückgeschickt, die sie erkranken liessen. Das Gesundheitssystem umfasse mehr als die Entwicklung und Bereitstellung geeigneter Therapien. Um die Krankheitslast in der Bevölkerung («Burden of disease») zu verkleinern, müssten Prävention, Kuration und chronische Langzeitbehandlung ineinandergreifen. Rund ein Drittel der Gesundheitsleistungen erfolgten durch private und nichtprofessionelle Hilfe, wobei dieser Anteil sinke, was mit ein Grund für den Kostenanstieg im Gesundheitswesen sei.
Das Schweizer Gesundheitssystem gehöre weltweit zu den besten, aber nicht zu den effizientesten: «Japan und Singapur leisten Gleiches zu deutlich tieferen Kosten», sagte Zeltner. Gerade das Beispiel Japans widerlege die Gleichung «je älter eine Bevölkerung, desto kränker». Prävention ziele nicht nur auf die Jugend. Genauso wichtig sei es zu verhindern, dass ältere Leute erkranken und multimorbid werden. Eine psychische Erkrankung etwa erhöhe das Risiko, zusätzlich auch an Diabetes oder an einem Herz-Kreislaufleiden zu erkranken um ein Vielfaches. Multimorbidität ist ein grosser Kostentreiber im Gesundheitswesen.
Medizin als Teamsport
«Jede zusätzliche Diagnose verlängert die Hospitalisationsdauer exponenziell»: Edouard Battegay erklärte, dass Multimorbidität – also das gleichzeitige Leiden unter mehreren Krankheiten – heute die häufigste Krankheitskonstellation sei. Die Hälfte der Bevölkerung weist zwei Diagnosen oder mehr aus. Die Medizin, bislang streng nach Organen organisiert, sei schlecht aufgestellt für die Betreuung von multimorbiden Patienten, die eine enge Zusammenarbeit über die Abteilungs- und Spitalgrenzen hinaus verlange. Battegay wünscht sich mehr Generalisten für diese komplexe Koordinationsarbeit. Bei der Behandlung multimorbider Patienten sei auch Augenmass gefordert. Oft kämen sich die Therapien für die verschiedenen Krankheiten in die Quere. Auf diesen Zielkonflikt («Doctor’s dilemma») seien die Ärzte schlecht vorbereitet, und viele zögen es vor, in überschaubaren Fachgebieten zu arbeiten. Doch Battegay sieht auch gute Chancen, dass die bislang von vielen Ärzten verschmähte Funktion des Generalisten wieder an Attraktivität gewinnt, da sich mit «Big Data» ein neues anspruchsvolles Forschungsgebiet eröffnet innerhalb der allgemeinen Medizin. Die Datenanalyse bringt Krankheitscluster zutage, etwas dass Hüftfrakturen, Demenz und Depression oft in Kombination auftreten. Daraus lassen sich koordinierte Therapien oder Präventionsmassnahmen ableiten.
Frühlingsputz für das Gesundheitssystem
Generell sei unser Gesundheitssystem zu kompliziert: Es gebe zu viele Kostenträger, zu viele Spitäler, zu viele redundante Untersuchungen und zu wenig Koordination. Dabei sei auch der Datenschutz ein Hindernis. Battegay und Zeltner gaben weiter zu bedenken, dass die grössten Kosten für die Gesellschaft entstehen, wenn Menschen arbeitsunfähig werden oder nicht mehr autonom leben können. Um dies in einer zunehmend multimorbiden und langlebigen Gesellschaft zu verhindern oder möglichst lange hinauszuzögern, müsse man in einem gemeinsamen Effort das System besser koordinieren und integrieren – und dabei die Kosten in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachten.
Die lebhafte Diskussion über die Zukunft der Medizin bestätigte, was Patrik Schellenbauer (Stv. Direktor Avenir Suisse) bereits in seinen Eröffnungsworten gesagt hatte: «Es gibt keine einfachen Lösungen für das Gesundheitssystem».