Crowdhouse: Sie haben im August 2023 eine Studie mit dem Titel «Mieten und Mythen» veröffentlicht. Die Publikation hat hohe Wellen geschlagen. Hat Sie diese Beachtung überrascht?

Marco Salvi: Das Thema war sehr aktuell – auch in Hinblick auf die Nationalratswahlen im Oktober. Die Publikation erfolgte inmitten einer Phase, in welcher der Wohnungspolitik medial sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Nicht jede meiner Publikationen erhält gleich viel Beachtung. Umso besser, dass wir damit den Nerv der Zeit getroffen zu haben scheinen und eine entsprechende Resonanz erzielen konnten.

Die Publikation wurde auch heftig kritisiert. Nationalrätin Jacqueline Badran hat sie schlichtweg als Propaganda bezeichnet.

Wer die Studie als Propaganda bezeichnet, hat sie schlichtweg nicht gelesen. Es ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Schweizer Mietwohnungsmarkt. Wir haben uns wissenschaftlich fundiert mit gängigen Thesen und Halbwahrheiten befasst und dabei verbreitete Narrative auf den Prüfstand gestellt. Diese Narrative sind nicht alle grundlegend falsch – aber es gibt eben auch etliche Übertreibungen.

Eines der gängigen Schlagworte in diesen Narrativen ist jenes der Wohnungsnot. Sie plädieren dafür, dass man den Begriff differenziert betrachten sollte.

Es geht um die Frage, ob wir in der Schweiz aktuell eine nationale Wohnungsnot haben. Und diese Frage muss man eindeutig mit «Nein» beantworten. Beispielsweise lag die Leerwohungsquote schon mal deutlich tiefer. Aktuell entspricht sie in etwa dem Wert, bei dem die Neumieten im Gleichgewicht sind, also im Landesdurchschnitt keine reale Verteuerung erfahren. Regional sieht es anders aus. Ich wohne in Zürich – natürlich unterscheidet sich dieser lokale Wohnungsmarkt vom schweizweiten Durchschnitt.

Bleiben wir beim Beispiel Zürich. Dort hat sich die Situation über die letzten Jahre hinweg kaum verändert. Man müsste dort also schon seit Jahren von Wohnungsnot sprechen?

Seit Jahrzehnten. Das letzte Mal, dass es in der Stadt Zürich Leerstände über 3–4% gab, war während der grossen Depression in den 1930er-Jahren. Seitdem hatten wir in der Stadt Zürich keine Leerstände mehr. Wie gesagt: Wir haben in der Schweiz urbane Hotspots, an denen es verhältnismässig sehr schwierig ist, eine neue Wohnung zu finden. Das ist allerdings alles andere als ein neues Phänomen.

Sie haben in Ihrer Studie auch die Bautätigkeit untersucht. Noch vor wenigen Jahren war von einem deutlichen Überangebot die Rede. Heute liest man genau das Gegenteil. Wie ist diese Trendwende in so kurzer Zeit zu erklären?

Es ist zum einen eine konjunkturelle Frage. Die Konjunktur war in den letzten 2–3 Jahren verhältnismässig stark – vor allem war der Arbeitsmarkt ausgetrocknet, was sich auch auf die Zuwanderung ausgewirkt hat. Dazu kommen demografische Entwicklungen. Gleichzeitig haben wir auch auf der Angebotsseite – also bei der Bautätigkeit – tatsächlich mehr Probleme als früher.

Die aktuelle Dynamik ist also vor allem durch die Zuwanderung bedingt?

Das ist einer der «Mythen», die wir in unserer Publikation untersucht haben. Viele gehen davon aus, dass die Zuwanderung einen grossen Einfluss auf den Wohnungsmarkt hat. Das stimmt kurzfristig zweifelsohne. Über mehrere Jahre hinweg betrachtet sieht man aber, dass die Angebotsseite in der Schweiz jeweils reagiert hat. Nach dem Abschluss der bilateralen Personenfreizügigkeit 2003 und 2007 sind die Preise und die Mieten stark gestiegen. Diese Entwicklung wurde relativ rasch korrigiert.

Besonders eine Aussage Ihrer Studie hat für viel Aufsehen gesorgt. Sie behaupten, dass Grossstadtmieten oftmals ein Schnäppchen sind.

Wenn man sich das Niveau der Bestandsmieten anschaut, ist das nicht von der Hand zu weisen. Natürlich – diejenigen Personen, die aktuell eine neue Wohnung suchen, sind mit deutlich höheren Mietpreisen konfrontiert als diejenigen, die schon länger in einem Mietverhältnis leben. Die grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer sind aber Bestandsmieter und diese haben in den letzten Jahren von sinkenden Zinsen und von real konstanten oder mitunter sogar real leicht fallenden Mieten profitiert. Die meisten Leute, die in den Grossstädten leben, waren von den gestiegenen Mietpreisen in den letzten Jahren nicht betroffen.

Wirkt sich die Diskrepanz von Bestands- und Neumieten auch auf das Umzugsverhalten aus? Für Bestandsmieter wird ein Umzug dadurch zusehends unattraktiver.

Genau, und das beantwortet die Frage, wieso wir in den Zentren so tiefe Leerwohnungsziffern haben. Das Schweizer Mietrecht ist so konzipiert, dass man einen Bonus bekommt, wenn man nicht umzieht. Das reduziert zwangsweise die Liquidität des Marktes und macht es umgekehrt für all diejenigen schwieriger, die eine neue Mietwohnung suchen. Aktuell werden die Kosten auf diejenigen abgewälzt, die umziehen.

Wohnungen in Zürich, Häuserfassade mit Balkonen und blauen Fensterläden.

Mit zunehmendem Alter werden Wohnungen im Vergleich zu Neubauten günstiger. (Dominique Mariotti, Adobe Stock)

Die Forderung nach mehr bezahlbarem Wohnraum ist in der Schweiz prominent. Wo müsste man gemäss Ihrer Studie ansetzen?

Definieren wir «bezahlbaren Wohnraum» mit Mietpreisen, die maximal 15% des Bruttoeinkommens ausmachen. Dieser Wohnraum entsteht in erster Linie durch Bestandswohnungen, die im Laufe der Zeit in diese Kategorie rutschen. Das ist ein ganz zentraler Punkt der Studie. Solche Wohnungen kommen allerdings nur auf den Markt, wenn entsprechende Alternativen vorhanden sind.

Diesbezüglich stehen private Entwickler immer wieder in der Kritik. Der Vorwurf lautet, dass diese ausschliesslich hochpreisige und auf Rendite optimierte Wohnangebote schaffen und keinen Beitrag für bezahlbaren Wohnraum leisten.

Das ist falsch. Selbstverständlich sind neu erstellte Wohnungen teuer, da sie nach heutigen Standards gebaut werden. Für solche Wohnungen gibt es aber eine Nachfrage und Leute sind auch bereit, mehr dafür zu bezahlen – sofern das Angebot eben da ist. Im Laufe der Zeit werden sie durch die Alterung aber relativ günstiger. Damit entsteht ganz natürlich mehr bezahlbarer Wohnraum. Gemäss unseren Berechnungen wird dadurch der Bestand an preisgünstigen Wohnungen netto – also inklusive Abbrüchen – um 15’000 Einheiten erweitert. Im Vergleich dazu: Wohnbaugenossenschaften produzieren im Jahr rund 3000 solcher Wohnungen – also gerade einmal ein Fünftel davon.

Land ist in der Schweiz ein sehr beschränktes Gut. Ein Reizwort der Stunde lautet «Verdichtung». Kommen wir in der Schweiz darum herum, irgendwann in die Höhe zu bauen?

Generell wird behauptet, dass Verdichtung in der Schweiz nicht stattfindet. Ich bin da nicht so pessimistisch. In den letzten zehn Jahren konnten wir durchaus beobachten, wie die Verdichtung vorangeschritten ist. Es ist vielleicht keine spektakuläre Verdichtung, sondern eben eine schweizerische Verdichtung, bei der Einfamilienhäuser zu Gebäuden mit drei Wohnungen umgewandelt werden.

Trotzdem: Gerade dort, wo Wohnraum dringend benötigt wird, sind Einsprachen und Rekurse in den letzten zehn Jahren stark angestiegen.

Wir sprechen zusehends über Verdichtung in Zonen, wo automatisch eine Vielzahl an Interessenkonflikten entsteht. Ich glaube, dort ist dieser Kampf tatsächlich härter geworden und hier sind Politik und Raumplanung gefordert. Das Ziel, dort zu bauen, wo schon gebaut ist und eben nicht auf grüner Wiese, ist meines Erachtens legitim. Die Verhältnisse in der Schweiz sind nicht wie in Hongkong. Wir reden von marginalen Erhöhungen, die hinsichtlich kompakter Siedlungen und erhöhter Dichte einen wesentlichen Beitrag leisten können.

Dieses Interview ist eine leicht gekürzte Fassung eines Gesprächs, das im Dezember 2023 im Magazin «How To Real Estate» des Immobilienunternehmens Crowdhouse erschienen ist.