Täglich findet sich jemand, der in Medien über das tiefe Zinsniveau lamentiert. Enteignung der Sparer, Vermögensinflation, Gefahr für die Stabilität des Bankensystems: Lang ist die Liste der mutmasslichen Malheurs, die der andauernden Nullzinsphase angelastet werden. Doch die Kritik fällt viel zu einseitig aus. Sie übersieht die Tatsache, dass jeder gesparte Franken auch ein geliehener Franken ist. Und für die Schuldner – ob Grossunternehmen oder Kleininvestoren – sind tiefe Zinsen eher Segen als Fluch.

Zu den Gewinnern der Tiefzinsjahre gehört auch die grosse Mehrheit der Mieterinnen und Mieter in der Schweiz. Denn die fallenden Zinsen und das günstige Investitionsklima haben die Bautätigkeit angekurbelt. Während sie um die Jahrtausendwende bei 30’000 Wohnungen pro Jahr hindümpelte (und somit nicht mal die Abschreibungsrate deckte), liegt sie heute bei über 50’000 Einheiten.

Das Ergebnis dieser steten Angebotserweiterung lässt sich langsam sehen: Trotz reger Zuwanderung hat der offizielle Mietpreisindex des Bundesamtes für Statistik seit 2009 um nur 8% zugelegt. Der dämpfende Effekt ist bei den Neuvermietungen besonders sichtbar. Der Homegate-Index, der ausschliesslich den Verlauf von neu abgeschlossenen Mietverträgen abbildet (und somit für die Wohnungssuchenden besonders relevant ist), ist seit 2016 sogar leicht rückläufig.

Noch nie in diesem Jahrhundert gaben die Haushalte einen so geringen Anteil ihres Bruttoeinkommens für das Wohnen aus: Im Durchschnitt 14%. (Kevin Hackert, Unsplash)

Diese Diagnose wird von der Entwicklung zweier weiterer Indikatoren gestützt. Der erste betrifft den Leerstand. Mitte dieses Jahres standen rund 75’000 Wohnungen leer, was 1,7% des Wohnungsbestandes entspricht. (Zum Vergleich: In den letzten 40 Jahren lag der Mittelwert bei 1%). Das ist umso beachtlicher, da Internetplattformen wie Comparis oder Homegate die Wohnungssuche effizienter gemacht haben und somit den suchbedingten Leerstand nachhaltig reduziert haben dürften.

Der letzte Puzzlestein in dieser Analyse betrifft die finanzielle Tragbarkeit der Wohnausgaben. Sie hat letztes Jahr ein Allzeithoch erreicht. Noch nie in diesem Jahrhundert gaben die Haushalte einen so geringen Anteil ihres Bruttoeinkommens für das Wohnen aus: Im Durchschnitt nur 14%.

Wohnungsnot ade?

Alles bestens also auf dem Schweizer Mietmarkt? – Leider nicht ganz. Denn diese Durchschnittswerte verbergen markante regionale Disparitäten. So ist in den Grossstädten vom steigenden Leerstand freilich wenig zu spüren. Während sich die Bestandesmieten sogar an zentralen Lagen kaum verteuert haben, legten die Neumieten stark zu. Die städtische Wohnungsknappheit trifft somit vor allem die Jungen und die Mobilen.

Die vielen Kräne, die man beispielsweise um den Zürcher Hauptbahnhof sehen kann, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den Grossstädten der Wohnungsbestand der Bevölkerungsentwicklung hinterherhinkt. Die Stadtregierungen wollen die zurzeit reichlich fliessenden Steuermittel vermehrt in die Subventionierung von «gemeinnützigen» Wohnungen investieren. Damit heizen sie aber nur die Nachfrage an. Besser wäre dafür zu sorgen, dass die Verdichtung vorankommt. Restringiertes Angebot, künstlich angeheizte Nachfrage: Man muss kein Immobilienökonom sein, um sich die Konsequenzen dieser Wohnpolitik vorzustellen.

Eine Version dieses Beitrages ist in der Zeitschrift «Konsumentenstimme», Ausgabe November 2019, erschienen.