Herr Bundesrat, wie kamen Sie als Arzt in die Politik?

Es war ein indirekter Weg. In den 1980er Jahren wurden wir in der Medizin mit Aids konfrontiert – einer völlig neuartigen Epidemie. Ich beteiligte mich an den Forschungen am Universitätsspital Zürich und eröffnete 1989 die erste HIV-Sprechstunde in Lugano. Diese klinische Reise öffnete mir die Augen für die gesellschaftliche, die soziale Dimension von Krankheit. Als ich mit 35 Jahren Kantonsarzt wurde, war ich nicht mehr für einzelne Patienten, sondern für mehr als 300 000 zuständig. Als Kantonsarzt fungiert man als Dolmetscher zwischen Medizin und Politik. Durch diese Brückenbauer-Aufgabe habe ich die Politik kennengelernt. 2003 wollte es der Zufall, dass die Tessiner FDP einen Arzt suchte für ihre Nationalratsliste. Man sicherte mir zu, dass keine Gefahr bestehe, gewählt zu werden, was auch der Fall war. Aber als Nationalrätin Laura Sadis Regierungsrätin wurde, rückte ich automatisch nach – und blieb in Bern hängen.

Sie sind ein Liberaler. Was bedeutet das für Sie persönlich?

Es bedeutet, auf eigenen Beinen zu stehen und aufzustehen, wenn man gefallen ist. Es bedeutet, Verantwortung für sich selber, aber auch für die Gesellschaft zu übernehmen. Ich verstehe mich klar als gesellschafts- und wirtschaftsliberal. In gesellschaftlichen Fragen bin ich ziemlich progressiv.

Gibt es einen spezifischen Tessiner Liberalismus?

Ja. Die Partei hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Der Flügel im Sopraceneri, wo die staatsnahen Betriebe wichtige Arbeitgeber waren, ist tendenziell etatistischer. Im Sottoceneri lag die Kultur näher bei Industrie und Gewerbe, man verspürte weniger Lust nach Berührung mit dem Staat. Die kulturellen Unterschiede zwischen den «Radikalen» im Norden und den «Liberalen» im Süden sind bis heute wahrnehmbar. Insgesamt positioniert sich die Tessiner FDP linker als ihre Mutterpartei.

Wo sehen Sie sich in diesem Spannungsfeld?

Ich bin als Quereinsteiger und als Sohn von Italienern, die nie Politik machten, unklar positioniert. Meistens platziert man die Leute entsprechend ihrer familiären und regionalen Herkunft. Aber sowohl mein Grossvater als auch mein Vater waren, ohne es zu wissen, echte Liberale.

Bei ihrer Wahl in den Bundesrat hat das ganze Tessin mitgefiebert. Wie erklären Sie diese starken Emotionen?

Es ist eine andere Kultur, eine andere Art und Weise, Freude zu zeigen. Wenn Sie Arzt sind, wissen Sie, dass Italiener Symptome extrovertiert ausdrücken – man spricht vom «Mamma-Mia-Syndrom». Zur italienischen Kultur gehört die Dimension des Theatralischen, der Operetta.

Man hatte nach Ihrer Wahl den Eindruck einer grossen Erleichterung im Tessin.

Die Erwartungen im Vorfeld waren geradezu gigantisch. Ich machte mir keine Sorgen über mich – nach einer kurzen Enttäuschung wäre mein Leben normal weitergegangen. Aber ich fragte mich, wie die Öffentlichkeit eine Nichtwahl aufnehmen würde. Die Reaktionen waren in dieser aufgeladenen Stimmung schwer abschätzen. Vielleicht wäre es jemandem eingefallen, die Autobahn zu blockieren, wie einst Nano Bignasca von der Lega.

Sie hatten solche Befürchtungen?

Es wäre wohl kaum so turbulent geworden wie in Katalonien. Aber erst kürzlich wollten in der Lombardei und im Veneto mehr als die Hälfte der Menschen bei Konsultativabstimmungen einen eigenen Bundesstaat ausrufen. Derartige Phänomene zielen auf die Frage der Identität.

Können Sie als Tessiner die Motive hinter solchen Autonomiebewegungen verstehen?

Ich glaube, wir werden gerade Zeuge vom Ende der weltweiten Globalisierungseuphorie. Wir haben vor zwanzig Jahren mit der ICT-Revolution den Beginn der Globalisierung erlebt – mit wöchentlich einem neuen Buch zum Thema. Jetzt schlägt das Pendel zurück. Grenzen erhalten wieder eine symbolische, aber auch eine konkrete Bedeutung. Migrationsströme werden nicht mehr im gewohnten Ausmass geduldet. Zu behaupten «il n’y a qu’a continuer comme-ça», verkennt die Realität. Was wir in diesen Wochen in Katalonien sehen, ist der Beweis dafür. Für das Tessin ist das kein spezielles Phänomen, es hat nur etwas früher begonnen.

Wieso früher?

Globalisierung bedeutet für das Tessin Personenfreizügigkeit, Europa, offene Grenzen ohne Kontrollen. Die Tessiner haben von der Globalisierung vor allem die Nebenwirkungen empfunden und die Hauptwirkungen als normal angesehen: Man ist etwas wohlhabender geworden, hat eine Wohnung gekauft, ein zweites Auto und drei Kühlschränke. Aber all das wurde nicht als Resultat der Bilateralen erlebt, weil das Narrativ fehlte. Einer der grossen Mängel der Politik war, dass sie vergessen hat, die Geschichte dessen zu erzählen, was man lebt. Die Menschen realisieren zu wenig, wieviel unser Wohlstand mit der Globalisierung zu tun hat.

Bundesrat Ignazio Cassis im Bundeshaus in Bern. (Keystone/Gaëtan Bally)

Offenbar gibt es im Tessin eine andere Sensibilität als in anderen Kantonen.

Das Tessin war schon globalisierungskritisch, als die restliche Schweiz noch in der Euphorie für die Personenfreizügigkeit schwelgte. Der Grund waren Beobachtungen an der Grenze zur Lombardei und zum Piemont, einem Gebiet mit rund 18 Mio. Einwohnern, wo ab den 1990er Jahren ein massiver wirtschaftlicher Abschwung einsetzte. Auf der Suche nach Arbeit kamen die Menschen ins Tessin. Die Rahmenbedingungen waren dafür auf der Steuerebene jedoch nicht gemacht. Grenzgänger wurden viel geringer besteuert, als wenn sie in Italien gearbeitet hätten. Deshalb konnte sich eine Stelle für 2000 Fr. im Monat lohnen. Die neue Konkurrenz am Arbeitsmarkt wurde zunehmend die Lektüre der Globalisierung für die Tessiner. Das zeigte sich auch in allen Abstimmungen.

Betrachtet man die Arbeitslosenquote im Tessin, ist sie allerdings nicht besonders auffällig. Es gab keine Verdrängung der Tessiner durch die Zuwanderer.

Diese Verdrängung ist sehr umstritten. Im Tessin ging es so weit, dass politische Kräfte das Amt für Statistik abschaffen wollten, weil es nachwies, dass keine Verdrängung stattgefunden hatte. Die Emotionen waren sehr heftig, reichten bis hin zur Verneinung der Realität. Aber wenn Fakten ignoriert werden, ist das eine gefährliche Situation, weil es uns in die Ära vor der Aufklärung zurückführt.

Dann besteht Ihre Aufgabe im Bundesrat jetzt darin, ein positives Narrativ aufzubauen?

Das wird eine der grössten Aufgaben für den Gesamtbundesrat. Es muss uns gelingen, dem Volk die Realität wieder verständlich zu machen – und zwar nicht mit dem Wortschatz von Avenir Suisse oder der «Neuen Zürcher Zeitung», sondern auf einer psychologischen Ebene, abseits vom üblichen akademischen Diskurs. Man ist zu oft davon ausgegangen, dass die Statistiken des Seco für sich sprechen.

Das tun sie nicht.

Nein. Wir kommen in eine Phase, in der sogar die Aufklärung in Frage gestellt wird – und verlieren allmählich unsere Bezugspunkte. Die Globalisierung hat in gewisser Weise die Wirtschaft von der Politik entkoppelt. Plötzlich war der Chef von Credit Suisse ein Amerikaner, und die Politik blieb verunsichert zurück. Aber was macht eine lokale Politik mit der Weltwirtschaft? Darin bestand für mich die grosse gesellschaftliche Krise der letzten zwanzig Jahre. Wir müssen jetzt ein neues Narrativ bilden – mit Worten und Fakten.

Wie könnte das aussehen?

Dass Sergio Ermotti als CEO der UBS Präsident des Fussballclubs meiner Gemeinde ist, das schafft ein Narrativ. Früher waren solche «Milizeinsätze» absolut normal.

Durch den Gotthard-Basistunnel dauert die Zugfahrt von Zürich nach Lugano nun gleich lange wie nach Appenzell. Es gibt eine Art Schweiz-interne Globalisierung, die dazu führt, dass Deutschschweizer in der Pizzeria in Ascona wie selbstverständlich auf Deutsch bestellen.

Das ist ein Spiegel der real-politischen Verhältnisse. Die Deutschschweizer bestimmen massgeblich, was in der Schweiz passiert. Weshalb fragt man einen Tessiner, was er eigentlich in den Bundesrat mitbringt? Man würde das niemals einen Deutschschweizer fragen. Ich habe während meines Wahlkampfes diese Frage so oft gestellt bekommen, dass ich sie am Ende leid wurde.

Sie wurden ja nicht nur aufgrund Ihrer Kompetenzen gewählt, sondern auch, um das Tessin im Bundesrat zu vertreten. Also möchte man wissen, worin denn nun die spezifischen Tessiner Anliegen im Bundesrat bestehen.

Aber Ueli Maurer wurde auch gewählt, weil er Deutschschweizer war. Schauen Sie, die Proportionen sind klar – entweder 5:2 oder 4:2:1. Sobald es bereits 2 oder 3 Lateiner gibt, wird jemand gewählt, weil er Deutschschweizer ist.

Wie ist es da zu verstehen, dass die Tessiner Regierung den Anschluss an die Standortmarketing-Organisation Greater Zurich Area sucht?

Das ist der Beweis dafür, dass der Gotthard-Tunnel nicht nur die Geografie, sondern auch die Politik verändert. Wir realisieren die gesellschaftlichen Auswirkungen des Tunnels noch zu wenig. Wir haben uns mit dieser fast sozio-anthropologischen Situation gar noch nicht auseinandergesetzt. Was bedeutet es, wenn man plötzlich in Bellinzona wohnen und in Zürich arbeiten kann? Sprechen die Tessiner gut genug Deutsch, um auf einem Arbeitsmarkt kompetitiv sein können, der zwanzig Mal grösser ist als der unsere? Wenn wir vom Süden bedrängt werden, können wir uns dann nicht vermehrt gegen Norden orientieren?

Warum konzentriert sich das Tessin nicht auf den kulturell und geografisch viel näheren Markt im Süden?

Die Tessiner fühlen sich als Schweizer! Im Verlauf von 200 Jahren ist diese Identität verinnerlicht worden. Wir Schweizer existieren eigentlich nicht als solche – Suiza no existe! – wir suchen unsere Identität meistens in der Differenz zur Kultur unseres Sprachraums. Die Deutschschweizer übertreiben mit ihrem Dialekt, um ihre Identität zu verstärken. Die Romands wollen keinesfalls Franzosen sein, obwohl sie dieselben Bücher lesen und Filme schauen. Auch die Tessiner haben sehr viel mehr gemeinsam mit Norditalienern als mit Appenzellern. Wir Schweizer kultivieren Identifikationsmerkmale, die es uns erlauben, anders zu sein als diejenigen des angrenzenden Sprachgebiets.

Damit sagen Sie: Das System ist identitätsstiftender als Sprache und Kultur.

Genau. Das Narrativ von Wilhelm Tell hält die Schweiz zusammen. Wir sind eine Willensnation, und die Institutionen sind der Klebstoff. Die Armee beispielsweise war lange eine wahnsinnig starke Integrationsagentur. Ich selbst wurde mit der Armee in die Schweiz integriert, habe die Deutschschweizer und die Welschen kennengelernt.

Welches Rezept haben Sie für eine prosperierende Schweiz und für ein prosperierendes Tessin?

Die Leute müssen realisieren, dass sie die Freiheit nur behalten können, wenn sie mehr Eigenverantwortung wahrnehmen. Das umfasst Verantwortung für sich selber, aber auch für die anderen. Die «Abzocker-Mentalität» betrifft nicht nur Millionäre, sondern das Verhalten vieler. Es braucht einen Mentalitätswandel, damit es uns auch in Zukunft gut geht.

Dieses Interview ist in «avenir spezial» vom Dezember 2017 erschienen. Das Magazin kann hier gratis bestellt oder als pdf heruntergeladen werden.

 Video: avenir spezial «Tessin»