«Walliser Bote»: Sie haben verschiedene Zukunftsperspektiven für die Bergregionen analysiert und Szenarien ent­wickelt. Sind Sie optimistisch? Oder doch eher nachdenklich?

Daniel Müller-Jentsch: Der gesamte ländliche Raum in Europa hat mit den Folgen des demografischen Wandels zu kämpfen. Von der Digitalisierung und der Globalisierung profitieren vor allem die Metropolen. Die wirtschaftliche Aktivität und die Bevölkerung konzentrieren sich in den urbanen Zentren. Diese Megatrends bekommen die peripheren Räume zu spüren, und in der Schweiz sind dies vor allem die Bergregionen.

Also eine eher pessimistische Perspektive?

Es gibt auch positive Faktoren. In der Schweiz sind dank kompakter Geografie und kleinteiligem Föderalismus fast überall gewisse Zentrumsstrukturen vorhanden – anders als etwa in Frankreich. Hinzu kommt: Die Verkehrsinfrastruktur ist in der Schweiz hervorragend und das Land wirtschaftlich solid, die Bevölkerung wächst. Das Schweizer Berggebiet profitiert von diesem guten nationalen Umfeld.

Trotzdem ist das Berggebiet unter Druck. Was ist zu tun?

Gebirgskantone wie das Wallis müssen den Strukturwandel aktiv angehen. Und sie tun dies bereits: Mit dem ETH-Campus in Sitten entsteht im Zentralwallis ein Innovationsmotor und eine Verbindung zur prosperierenden Genferseeregion. Am Chemiestandort Visp wird derzeit im grossen Massstab in Hightechanlagen investiert. Im Oberwallis spielt die Regions- und Wirtschaftszentrum Oberwallis AG eine wichtige Rolle. Sie ist schweizweit eine der aktivsten regionalen Entwicklungsorganisationen.

Das Wallis steht in einem Veränderungsprozess. Und damit auch der Wintertourismus.

In der Tat befindet sich auch dieser in einem tief greifenden Wandel: Verändertes Kundenverhalten, Digitalisierung, Klimawandel sind nur einige Stichworte. Auf diese veränderten Rahmenbedingungen muss die Branche reagieren.

Zersiedelter Talboden im Rhonetal. (aus: Kantonales Raumentwicklungskonzept des Kantons Wallis)

Und wie?

Das Profil der einzelnen Destinationen muss geschärft werden: klassischer Skitourismus in Zermatt, Langlauf und Wandern im Goms, Wellness und Gesundheit in Leukerbad. Grächen ist ein Beispiel für eine Spezialisierung auf Familien mit Kindern. Derartige Strategien zur Destinationsentwicklung erfordern eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren vor Ort, aber gerade daran mangelt es häufig.

Weshalb fehlt die Bereitschaft zur Kooperation?

Zu häufig wird noch in Nullsummenspielen gedacht. Statt Energie in kleinräumigen Rivalitäten zu verschleissen, sollte man besser zusammenarbeiten, um die gemeinsame Destination im überregionalen Wettbewerb voranzubringen. Wettbewerbsfähige Konkurrenten stärken die Qualität der gesamten Destination.

Was wurde in der Vergangenheit sonst noch verpasst?

Die langjährige Fokussierung auf den Zweitwohnungsbau und die damit einhergehende Verschandelung vieler Ortsbilder ist sicher ein negativer Aspekt. Im Wallis gab es einen relativ sorglosen Umgang mit der historischen Bausubstanz und der Schönheit der Landschaft. Die Raumplanung wurde vernachlässigt. Das Rhonetal zwischen Visp und Brig ist eine diffuse Siedlungsstruktur ohne urbane Qualität.

Wie kann man hier eingreifen?

Die Ortsbildpflege sollte als Aufgabe der Standortentwicklung betrachtet werden und nicht nur als Aufgabe des Heimatschutzes oder der Denkmalpflege. Aus den früheren Fehlern muss das Wallis lernen. Und nun korrigierend eingreifen.

Sind gut erhaltene Dorfkerne wirklich wichtig?

Das sind sogenannte weiche Standortfaktoren. Diese werden oft zu wenig ernst genommen. Fragen der Ästhetik, der Kultur, der Authentizität sind gerade im Tourismus vielfach entscheidend. Im Vergleich zu Graubünden hat das Wallis hier sicherlich Nachholbedarf.

Es braucht auch Innovation. Aber wie sieht Innovation im Tourismus aus?

Es gibt viele Arten der Innovation: digitale Marketing- und Vertriebsstrategien, Produktbündelung, neue Beherbergungs- und Gastronomiekonzepte. Eine grosse Chance sehe ich in der Entwicklung «hybrider» Tourismusprodukte. Man sollte Pakete bündeln zwischen Berg- und Städtetourismus. Und es braucht Angebote für die Verknüpfung von Arbeit und Freizeit. Ein Beispiel: Es gibt im Wallis ein Hotel, das mit IT-Firmen im Unterland zusammenarbeitet. Deren Programmierer können unter der Woche, wenn das Hotel leer ist, in Ruhe arbeiten und am Wochenende können ihre Familien zu einem reduzierten Tarif nachkommen. Nicht nur Ferien und Freizeit sollten in das Berggebiet verlagert werden, sondern auch das Arbeiten. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwinden zunehmend.

Funktioniert das?

Gerade die Schweiz scheint hierfür prädestiniert, da die Grossstädte und das Berggebiet nahe beieinanderliegen. Verkehrstechnisch ist Visp ein Vorort von Bern und das Unterwallis gehört zum Einzugsgebiet des Arc lémanique. London, Paris oder Berlin haben hingegen kein alpines Hinterland. Eine solche Verknüpfung kann nur die Schweiz bieten. Das ist eine einmalige Chance für die Metropolen und Bergregionen zugleich.

Sie sagen auch, dass Zweitwohnungsbesitzer ein grosses Potenzial haben.

Im Kanton Wallis ist fast jede zweite Wohneinheit eine Zweitwohnung. Hier schlummert ein riesiges Potenzial. Die Zweitwohnungsbesitzer als Gruppe verdienen überdurchschnittlich gut. Sie sind vielfach vermögend und unternehmerisch tätig. Und sie sind dem Berggebiet emotional verbunden. Diese Teilzeitbewohner des Wallis verfügen also über all jene Ressourcen, die man für die wirtschaftliche Entwicklung benötigt.

Wie meinen Sie das?

Berggemeinden und -kantone sollten die Zweitwohnungsbesitzer gezielter als Partner einbinden, z.B. über politische Mitspracherechte oder durch eine Beziehungspflege nach Vorbild der Alumni-Organisationen an Hochschulen. Der Kanton Wallis könnte einen Zweitwohnungsbeauftragten benennen, der etwa Newsletter versendet und Events für Zweitwohnungsbesitzer organisiert oder diese mittels einer Kontaktdatenbank erfasst. So könnte man die Leute aktiv ansprechen und vernetzen.

Die Beziehung zwischen Zweitwohnungsbesitzern und Einheimischen ist derzeit vielerorts eher schwierig…

Daran kann man arbeiten. Beispielsweise durch einen jährlichen Zweitwohnungs-Apéro. Man könnte zudem bestimmte Milizämter für Zweitwohnungsbesitzer öffnen oder in Tourismusgemeinden einen «Rat der Zweitwohnungsbesitzer» benennen, als beratendes Gremium für die Gemeindepolitik. So liesse sich Vertrauen aufbauen und das Engagement der Zweitwohnungsbesitzer kultivieren.

Sie kritisieren den Bau teurer Infrastruktur und fordern «Brain statt Beton» als Schwerpunkt der Regionalentwicklung.

Natürlich bin ich nicht gegen moderne Infrastrukturen, aber es geht um die Frage der Prioritäten. In der Vergangenheit herrschte im Berggebiet das Gefühl vor, dort wo gebaut wird, ist wirtschaftliche Entwicklung. Und je mehr gebaut wird, desto besser ist es. Doch das hat sich im Zweitwohnungssektor als wenig nachhaltig erwiesen. Auch im Infrastrukturbereich wird mit zu grosser Kelle angerührt. Es geht um die grundsätzliche Frage, ob es für das Berggebiet gut ist, dass so viel Geld in Infrastrukturen fliesst und relativ wenig in Projekte, die auch nach der Bauphase wiederkehrende Wertschöpfung generieren.

Dufourspitze im Monte-Rosa-Massiv. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Werner Friedli)

Wie werden sich die Alpen in 15 Jahren präsentieren?

Einige Randregionen werden sich weiter entleert haben. Der Wintersport wird sich in höher gelegene Lagen, wie sie im Wallis häufig zu finden sind, zurückziehen. In gut aufgestellte Destinationen, die ihre Hausaufgaben gemacht haben und schneesicher sind. Entlang des Rhonetals könnte sich dank vorausschauender Raumplanung eine neue Art von alpiner Urbanität entwickeln. Bildungsinstitutionen und Industriestandorte werden als Wachstumsmotoren dienen. Sodass die Leute nicht in die Metropolen des Mittellandes abwandern, sondern im Kanton bleiben. Man muss die Weichen heute bereits stellen, damit ein solch positives Szenario eintritt. Alle Akteure sind gefordert.

Interview: Armin Bregy. Erschienen am 22. Januar 2019 im «Walliser Boten». Weiterführende Informationen: Strukturwandel im Schweizer Berggebiet.