Am Dienstag veröffentlichte der Internationale Währungsfonds (IMF) seine neuesten Prognosen zur Entwicklung der Weltwirtschaft. Der Fonds teilt die Länder in Bezug auf die Wachstumsaussichten in drei Gruppen ein: Die Entwicklungs- und Schwellenländer mit Wachstumsraten von durchschnittlich über 5% pro Jahr, eine Gruppe von Industrieländern, die grundsätzlich auf gutem Weg sind – darunter auch die Schweiz – und als Drittes die Länder der Euro-Zone, die noch mehrere Jahre schwachen Wachstums vor sich haben.
Seit dem Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise werden diese halbjährlich publizierten Prognosen jeweils mit Spannung erwartet. Seit Ausbruch der Krise können aufmerksame Beobachter aber auch feststellen, wie schwierig es ist, Aussagen über eine Zukunft zu machen, die nicht einfach unter dem Zeichen der Fortsetzung eines «business as usual» steht. Denn interessanter als die jeweiligen Prognosen des IMF sind die Änderungen, die diese gegenüber den früheren Versionen erfahren. Das lässt sich am besten veranschaulichen, indem man alle IMF-Prognosen zum BIP-Wachstum in ausgewählten Ländern ab April 2008, also wenige Monate nach dem Ausbruch der aktuellen Finanzkrise, übereinanderlegt. Diese Darstellung ist sehr aufschlussreich, denn sie relativiert eindrücklich die Zuverlässigkeit von Prognosen in unsicheren Zeiten. Hierzu zwei Beispiele:
- 2008 wurde Griechenland ein hohes, stabiles Wirtschaftswachstum vorausgesagt – bis 2013 sollte das BIP pro Kopf gegenüber 2007 um 22% steigen. Seither wurden die Prognosen Halbjahr für Halbjahr drastisch nach unten korrigiert. Heute sieht der IMF die Talsohle 2013 erreicht. Gegenüber 2007 wird laut diesen Zahlen ein ganzes Viertel der Wirtschaftskraft verloren gegangen sein. Im Vergleich zur ersten Vorhersage ergibt sich somit innerhalb weniger Jahre eine Outputlücke von beinahe 50% des Ausgangs-BIPs. Ob das Ende der Fahnenstange damit wirklich erreicht ist, ist alles andere als klar: Bezeichnenderweise sah der Fonds den Turnaround in den letzten acht Semestern immer für das jeweils folgende Jahr voraus.
- Entgegengesetzt die Prognoseentwicklung für Deutschland: Im April 2009, als sich endgültig abzeichnete, dass die Krise auch auf Europa übergreifen würde, sagte der IMF unserem nördlichen Nachbarn den tiefsten Taucher aller hier dargestellten Länder voraus. Schnell konnten die Wachstumsprognosen in den Folgejahren nach oben korrigiert werden. Während die Griechen vermutlich noch Jahrzehnte darauf warten müssen, überschritt das deutsche Pro-Kopf-BIP schon 2010 wieder das Vorkrisenniveau.
Dass sogar die Experten im Jahr 2008, als die Finanzkrise schon losgetreten war, kaum Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum der Euroländer voraussagten – am allerwenigsten für Griechenland – mag zwar den Laien ernüchtern, aber so wirklich erstaunen kann es nicht, denn eines ist klar: Wären Krisen vorhersehbar, würden Sie gar nicht stattfinden.
Dass hingegen auch nach mehreren Krisenjahren die Prognosen ausgewiesener Experten oft das Papier nicht wert waren, auf dem sie geschrieben standen, ist wirklich desillusionierend. Die ständigen Anpassungen der Voraussagen zeigen vor allem eines: Sie hinken der Realität (obwohl zukunftsgerichtet) insofern hinterher, als sie nur fähig sind, schon beobachtbare Entwicklungen fortzuzeichnen. Neue Wendungen werden kaum je vorhergesehen, rückblickend hingegen kann alles irgendwie erklärt werden.
Heute wird uns erklärt, warum Deutschland die Eurokrise am besten überstanden hat (produktive, exportorientierte Industrie, die vom tiefen Euro profitiert) und warum Griechenland ein klassischer «Failed State» ist und in der EU eigentlich nichts verloren hat (Korruption, Einstellung der Bürger zum Staat, Produktivität). Diese Argumente scheinen uns einleuchtend, die Erkenntnis selbstverständlich.
Wäre die Sache aber wirklich so einfach, hätten nicht dutzende Experten des IMF noch vor wenigen Jahren Griechenland ein ungebremstes Wachstum und Deutschland einen drastischen Einbruch der Wirtschaftsleistung vorausgesagt. Diese Erkenntnis sollte man sich nicht nur bei der Interpretation von Wirtschaftsprognosen, sondern ganz generell im Umgang mit Zukunftsvorstellungen vor Augen halten: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt!