Für unsere Sommerreihe werfen verschiedene Wissenschafter und Think-Tanker einen Blick auf die Schweiz von aussen und nehmen Stellung zur Frage: «Warum ist die Schweiz so anders als ihre Nachbarstaaten?». Der dritte Beitrag stammt von Franz Schellhorn, Direktor der österreichischen Denkfabrik Agenda Austria. Er sieht den zentralen Unterschied zwischen Österreich und der Schweiz im tief verankerten Verständnis der Schweizer, dass sämtliche staatliche Zuwendungen von der Bevölkerung erwirtschaftet und bezahlt werden müssen. Dies spiegle sich direkt in der Politik, wie Schellhorn anhand des bezahlten Urlaubs und des Föderalismus zeigt.
Als sich die Bürger der Schweiz vor knapp zweieinhalb Jahren per Volksentscheid weigerten, sechs statt der bisher üblichen vier Wochen bei vollen Bezügen zu urlauben, löste das im östlichen Nachbarland tiefgreifende Unruhe aus. Ernste Zweifel an der geistigen Stabilität der hierzulande so hochgelobten Schweizer bahnten sich ihren Weg, denn wie um Himmels Willen können Angestellte gegen mehr bezahlte Freizeit sein? Allein dieser Gedankengang lässt die vom Wohlfahrtsstaat rundumversorgten Österreicher frösteln. Was kommt da auf uns zu, wenn sich selbst die reiche Schweiz keine sechs Wochen bezahlten Urlaub leisten will oder gar kann? Sind am Ende wir Österreicher die Deppen, weil wir nicht sehen, dass wir Arbeitnehmer es sind, die das bezahlte Mehr an Freizeit selbst erwirtschaften müssen? Genauso wie alle anderen «staatlichen» Zuwendungen, vom neuen Schwimmbad in der Gemeinde über die «Gratis»-Zahnspange von der Krankenkasse bis hin zum flächendeckenden Vorruhestand?
Suchte man nach dem fundamentalen Unterschied zwischen den beiden benachbarten Alpenvölkern, wäre er wohl darin zu finden, dass die Schweizer so etwas wie kollektivistisch denkende Individualisten mit einem beneidenswert erwachsenen Zugang zum Staat sind. Während wir Österreicher individualistisch handelnde Kollektivisten sind, die zwar gerne «Der Staat sind doch wir» rufen, um ihn dann bei jeder Gelegenheit mit einem Geldautomaten zu verwechseln, der stündlich vom freundlichen Herrn Notenbankgouverneur aufgefüllt wird. Dieses offensichtlich tief verankerte Grundverständnis, dass die von Politikern verteilten Geschenke auch von der Bevölkerung erwirtschaftet und bezahlt werden müssen, ist es, dass uns Österreichern weitgehend abhanden gekommen ist – und die Schweiz ziemlich einzigartig macht.
In der Schweiz ist man eben noch ein Sonderling, wenn man meint, dass der allgemeine Wohlstand in den Kellern der Zentralbanken heranwächst. Weil man in der Schweiz auch weiß, dass die Staatsausgaben von heute die Steuererhöhungen von morgen sind und dass das neue Freibad nicht das Geschenk der regierenden Partei ist. Genau diese banalen Erkenntnisse sind der Grund dafür, dass der Schweizer Staatshaushalt selbst in den Jahren nach Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise ausnahmslos Überschüsse abgeworfen hat. In Österreich war der Bundeshaushalt (ohne Länder und Gemeinden) übrigens seit 1962 (in Worten: neunzehnhundertzweiundsechzig) nicht mehr im Plus. Überhaupt haben Österreichs Finanzminister seit 1945 nur viermal am Ende des Jahres etwas Geld übrig gelassen.
Wie ungleich der Zugang der beiden Völker zum Staat ist, zeigt auch die in Österreich aufflammende Forderung nach Abschaffung des Föderalismus. «Zu teuer für so ein kleines Land», wie es immer wieder heißt. Dabei ist das, was Österreich für Föderalismus hält, kein Föderalismus. Sondern eine Kombination aus Einnahmenzentralismus (Steuererhebung durch den Bund) und einem mittlerweile unkontrollierbar gewordenen Ausgabenföderalismus. Das wiederum ist die teuerste Variante einer Staatsorganisation, die auf diesem Planeten anzutreffen ist. Wie es besser zu machen wäre, zeigt – erraten – die Schweiz. Echter Wettbewerbsföderalismus mit regional unterschiedlich hohen Steuern und hoher Ausgabenverantwortung vor Ort ermöglichen eben einen sorgsameren Umgang mit den Geldern der Bürger. Und das ist keine Frage der Größe: Bei annähernd gleicher Einwohnerzahl zählt die Schweiz fast dreimal so viele Kantone wie wir Österreicher Bundesländer, etwas weniger als doppelt so viele Bezirke und rund 50 Gemeinden mehr – ist aber um mindestens ein Drittel günstiger verwaltet.
Spätestens jetzt muss man verstehen, wieso die Schweizer uns Österreichern nicht geheuer sind. Uns geht es so wie einem lernschwachen Kind, dem pausenlos die tadellos funktionierende Schwester vorgehalten wird. «Aber schau doch mal, wie toll die Schweiz das macht!» So etwas kommt auf Dauer nicht gut an. Umso besser, dass auch die Schweizer hin und wieder bemerkenswert originelle Zugänge finden. Etwa, wenn sich grundsätzlich freiheitsliebende Menschen von den Spitzen eidgenössischer Minarette bedroht sehen. Das nimmt ein wenig Druck von uns, den mediokren Nachbarn.
Auch wenn es keinen Grund gibt, die Schweiz zu glorifizieren, so haben deren Bürger in den vergangenen 20 Jahren sehr vieles sehr richtig gemacht. Während wir so viel Richtiges unterlassen haben. Aber dafür muss Österreich auch nicht über sechs Wochen bezahlten Urlaub abstimmen lassen – die sind für viele Arbeitnehmer nämlich längst Realität.