Im Rahmen der aktuellen Diskussion über die Krisenbekämpfung der Euro-Zone geht es um die zentrale Frage, ob die unumgänglichen Reformmassnahmen in erster Linie über Austeritäts-Programme laufen sollen oder ob nicht viel eher das Wirtschaftswachstum anzukurbeln sei. Der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen hat dieser wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung noch zusätzliche Aktualität verliehen.
Was hat hierzu die Wirtschaftsforschung zu sagen? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wird im Folgenden auf einige jüngere Studien verwiesen, die zu recht unterschiedlichen Aussagen kommen.
- Im angesehenen «Journal of Economic Literature» wird in der Septemberausgabe 2011 unter dem Titel «What is the Size of the Multiplier?» die Wirksamkeit staatlicher Stimulierungspakete stark bezweifelt und in der Folgestudie «Government Spending and Private Activity» der Ökonomin Varie A. Ramey (University of California) vom Januar 2012 noch bekräftigt. Ramey kommt aufgrund empirischer Tests mit verschiedenen Modellen und unterschiedlichen Datensätzen zu für die Politik ernüchternden Erkenntnissen: Expansive Staatsausgaben dämpfen die privaten Ausgaben, d.h.der Fiskalmultiplikar liegt unter 1, sie verdrängen private Investitionen und erhöhen die Beschäftigung nur im öffentlichen Sektor. Für die schon mit einem aufgeblähten Staatsapparat kämpfenden und unter mangelnder Wettbewerbsfähigkeit leidenden peripheren Euro-Länder kann das Heil deshalb wohl kaum einfach in einer keynesianischen Ausgabenpolitik gesucht werden.
- Zu wesentlich anderen Schlussfolgerungen gelangen die bekannten amerikanischen Ökonomen Bradford DeLong/Lawrence H. Summers in ihrer Studie «Fiscal policy in a Depressed Economy» vom März 2012, die sie für die Brookings Institution gemacht haben. Sie zeigen, dass sich für Volkswirtschaften in einer Liquiditätsfalle – was für die USA und Grossbritannien zutreffen mag – zusätzliche Staatsausgaben unter bestimmten Annahmen sozusagen selber finanzieren. Sie sagen darüber hinaus, die europäische Austeritätspolitik werde die Lage eher verschlimmern und auch die Verschuldungsquoten nicht reduzieren. – Muss dies nicht eine verlockende Empfehlung für die Politiker der Euro-Zone sein, wenn staatliche Mehrausgaben gleichsam die beste Sparpolitik sind?
Was ist aus diesen Arbeiten zu schliessen? Vor allem eins: Die moderne Wirtschaftsforschung lässt die Wirtschaftspolitik vielfach im Stich, weil sie wegen unterschiedlicher Modelle, Annahmen und empirischer Testverfahren häufig zu unterschiedlichen Resultaten gelangt. Positive und normative Aussagen werden nicht selten vermischt bzw. es wird nicht genügend zwischen der Realität und dem Modell unterschieden.
Dabei wird die Werturteilsfreiheit in der modernen Wirtschaftsforschung immer stark betont. Deren Leitmotiv, so bringt es Prof. Axel Ockenfels, einer ihrer führenden Vertreter, auf den Punkt, lautet denn auch «Daten statt Dogmen». Gefragt sind mit anderen Worten in erster Linie evidenzbasierte Aussagen auf der Basis von theoretischen Modellen und empirischen Tests. Damit aber die Wirtschaftspolitik nicht völlig im Dunkeln tappt, braucht es letztlich auch «Ordnungs-Ökonomen», die liberalen Prinzipien verhaftet sind und aus einer marktwirtschaftlichen Gesamtsicht der Öffentlichkeit die nötige Orientierung geben, wenn das Feld nicht einfach Bürokraten, Weltverbesserern und Politikern überlassen werden soll.
Was heisst dies für die eingangs gestellte Frage? Die europäische Schulden- und Vertrauenskrise kann wohl nur mittels einer wirtschaftspolitischen Strategie bewältigt werden, die eine tragfähige politische Balance schafft zwischen einer unverzichtbaren Konsolidierung des Staatshaushalts und einer Wachstumspolitik, die den wirtschaftlichen Akteuren durch eine vernünftige Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eine glaubwürdige Zukunftsperspektive verschafft. Wachstumspolitik aus dieser Sicht ist etwas anderes als einfach das Auflegen neuer staatlicher Konjunkturprogramme bzw. neue Schulden. Die Steigerung des Wachstumspotenzials einer Volkswirtschaft ist eine schwierige und langwierige Aufgabe, die in erster Linie in die Zuständigkeit der Mitgliedsländer fällt.
Schliesslich kommt eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie über die Wiederwahlchancen reformorientierter Regierungen anhand von Daten aus 21 OECD-Ländern zur Feststellung, dass eine knappe Mehrheit der Regierungen wieder gewählt wurde, egal ob sie nun reformorientiert oder reformresistent waren. Dies lässt immerhin die Hoffnung bestehen, dass Strukturreformen auf den Güter-und Arbeitsmärkten nicht völlig ohne Chancen sind.