Die Klage hat den Autor dieser Zeilen fast sein ganzes Erwachsenenleben lang begleitet: Die Schweiz deindustrialisiere sich immer mehr, ihr Wohlstand werde fast nurmehr und viel zu viel von Banken, Versicherungen und dem Tourismus getragen, der Werkplatz sei dagegen am Verschwinden. Zurzeit hat die Klage angesichts der Frankenstärke geradezu Hochkonjunktur. Und zum ersten Mal seit Jahrzehnten scheint sie auch wieder berechtigt, zumindest als Warnung. Davor war sie dagegen einzig in den 1970er Jahren einigermassen verständlich. Damals hatte die Industrie gerade ihren Spitzenplatz in Sachen Beschäftigung, den sie dank der frühen und starken Industrialisierung der Schweiz während über eines Jahrhunderts eingenommen hatte, an die Dienstleistungen abgegeben. Und zudem sank der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung des Landes innert nur sechs Jahren, von 1973 bis 1979, von fast 30% auf unter 24%. So stark war der relative Einbruch unter den in der Grafik dargestellten Ländern höchstens noch in Japan.
Die 70er Jahre als Ausnahme
Diese Phase prägt offensichtlich bis heute das Bild einer Schweiz, die sich deindustrialisiert – und das völlig zu Unrecht, denn abgesehen von dieser Periode erweist sich die Schweizer Industrie als geradezu ungewöhnlich robust. So sank der Anteil der Industrieproduktion an der Wertschöpfung innert 30 Jahren, zwischen 1979 und 2009, nur noch um 2 Prozentpunkte. In Grossbritannien betrug der Rückgang im gleichen Zeitraum dagegen rund 19 Prozentpunkte, womit sich der Anteil mehr als halbierte. Dort kann man wohl mit Fug und Recht von einer Deindustrialisierung sprechen. Frankreich, Italien und Deutschland verzeichneten ebenfalls Rückgänge im zweistelligen Bereich (12-13 Prozentpunkte), Japan, die USA und die Niederlande solche im hohen einstelligen Bereich (8-9 Prozentpunkte). Als Folge ihrer unter den westlichen OECD-Ländern einzigartigen Entwicklung hat die Schweiz nun in Sachen Industrieanteil praktisch mit Deutschland gleichgezogen und Japan ganz knapp überholt.
Die Schweiz ist, wie es in der Publikation «avenir aktuell» heisst, eine veritable Industriemacht. Mit einem Gegenwert von rund 100 Mrd. $ ist die Industrieproduktion der Schweiz in absoluten Zahlen mehr als doppelt so hoch wie jene Singapurs oder Norwegens, um rund die Hälfte höher als jene Belgiens und um einen Drittel höher als jene Schwedens. Mit den bevölkerungsmässig wesentlich grösseren Niederlanden oder mit Taiwan liegt die Schweiz praktisch auf gleicher Höhe. Und Giganten wie Indien, Russland oder Kanada kommen nur auf eine etwas mehr als doppelt so grosse Industrieproduktion wie die Schweiz. Als Folge davon steht die Schweiz hinsichtlich ihrer Industrieproduktion pro Kopf einsam an der Spitze, mit 12 400 $ meilenweit vor dem zweitplacierten Japan (8600 $). Das hochindustrialisierte Deutschland (7700 $) schafft es nur auf knapp zwei Drittel des schweizerischen Wertes, Italien und Frankreich kommen auf weniger als die Hälfte.
Hohe Wertschöpfung
Natürlich sind diese absoluten Zahlen zu einem beträchtlichen Teil auch die Folge davon, dass die Schweiz sehr hochwertige Güter produziert, solche, bei denen die Innovation eine besonders grosse Rolle spielt, wie Medizinaltechnikprodukte, Pharmazeutika, Präzisionsinstrumente oder Luxusuhren. Zum hohen Wert der Industrieproduktion trägt aber oft auch eine konsequente Markenpflege bei, die es dann zusammen mit einer weit getriebenen Automatisierung erlaubt, trotz hohen Arbeitskosten in der Schweiz zu produzieren. Das klassische Beispiel dafür war die Lancierung der Swatch, mit der die Schweizer Uhrenindustrie gerettet werden konnte. Aber auch die Nespresso-Kapseln zeigen, dass man in der Schweiz sehr wohl auch heute noch industriell fertigen kann.
Allerdings: Würden die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen einmal nicht mehr stimmen, zu denen ein liberaler Arbeitsmarkt und der Schutz des Eigentums ebenso zählen wie ein Wechselkurs, der nicht allein von den Turbulenzen der Nachbarn geprägt ist, dann würde wohl alle Innovation nichts mehr nützen, um die Schweiz als Industriemacht zu erhalten.
Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 28. Juli 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.