Der Mobilitätssektor steht am Anfang einer digitalen Revolution, aber die Schweizer Verkehrspolitik wird weiterhin dominiert vom Ingenieursdenken des 19. Jahrhunderts. Statt immer neue Milliardenpakete für infrastrukturelle Hardware-Pakete zu schnüren, sollte die Priorität auf intelligente Softwarelösungen gesetzt werden. In der bereits vorhandenen Infrastruktur schlummern enorme Kapazitätsreserven, die sich durch technologische Innovation erschliessen lassen. Die «NZZ am Sonntag» hat den Avenir-Suisse-Verkehrsexperten Daniel Müller-Jentsch zum Thema befragt:

«NZZ am Sonntag»: Der Bundesrat will 11,5 Mrd. Fr. in den Ausbau der Bahninfrastruktur bis 2035 investieren. Ist das sinnvoll?

Daniel Müller-Jentsch: Nein. Ökonomisch gesehen scheint mir dies als ein ineffizienter, wenn nicht gar verschwenderischer Einsatz von Steuergeldern. Wir leben im Zeitalter der Digitalisierung. Ein derartiger Infrastruktur-Gigantismus ist anachronistisch. Wir müssen stattdessen die Kapazitätsreserven der vorhandenen Infrastruktur effektiver nutzen können. Diese Reserven sind riesig.

Wie gross?

Im Durchschnitt beträgt die Sitzplatzauslastung magere 20 Prozent im Regionalverkehr und 30 Prozent im Fernverkehr. Bis zu 80 Prozent der Zugkapazität bleiben damit also ungenutzt. Dazu könnte man durch autonom fahrende Züge und intelligente Verkehrssteuerung die Verkehrsdichte auf dem heutigen Netz um sicherlich 20 bis 30 Prozent erhöhen. Diese Potenziale gilt es zu heben.

Wenn nicht: Wie wird sich die Digitalisierung dann auf den Schienenverkehr auswirken?

Der Mobilitätssektor steht am Anfang einer digitalen Revolution. Autonomes Fahren, Uber, Mobilitäts-Apps für Smartphones, Big-Data-Anwendungen zur Stauvermeidung, Roboter und Drohnen für die Paketlieferung sind nur einige Stichworte. Der Schienenverkehr mit seinen trägen Staatsbetrieben und seinen gigantischen Kapitalkosten droht in der digitalen Mobilitätswelt von morgen zum Dinosaurier zu werden.

Reichen technologische Innovationen allein, um die stetig steigende Nachfrage im öffentlichen Verkehr zu befriedigen?

Wir brauchen neben einer Technologieoffensive im Bahnbereich auch das Mobility-Pricing, bei dem die Tarife zur Stosszeit höher und zur Nebenzeit tiefer sind. So können wir Verkehrsspitzen glätten und teure Infrastrukturinvestitionen vermeiden.

Viele sehen höhere Tarife zu Stosszeiten als Pendlerstrafe.

Darum muss eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten Teil der Lösung sein. Auch hier zeigt die Digitalisierung ihre Wirkungen. Heute sind die Pendler aber eine dreifach privilegierte Gruppe. Sie profitieren von einer stark subventionierten Mobilität, von Vielfahrer-Rabatten wie Halbtax oder GA und darüber hinaus vom Pendlerabzug bei der Steuer.

Dieses Interview ist in der «NZZ am Sonntag» vom 7. Oktober 2017 erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.