Felix Howald und Camilla Zenoni: Gerhard Schwarz, wie international ist die Schweiz im internationalen Vergleich?

Gerhard Schwarz: Die Schweiz ist eines der offensten und verflochtensten Länder der Welt. Der Ausländeranteil beträgt gegen 25 Prozent, der Anteil derer, die im Ausland geboren wurden, nähert sich den 30 Prozent, und in den Geschäftsleitungen der grösseren Schweizer Unternehmen sitzen zu über 40 Prozent ausländische Führungskräfte. Keines unserer Nachbarländer weist auch nur annähernd eine so starke Zuwanderung auf. Hätten sie zwischen 2007 und 2012 eine prozentual gleiche Zuwanderung erlebt wie die Schweiz, wären in Deutschland jährlich 667‘000 Menschen mehr eingewandert als effektiv kamen (und kumuliert insgesamt 4 Millionen), in Frankreich 569‘000 (3,4 Millionen), in Italien 187‘000 (1,1 Millionen) und in Österreich immerhin 54‘000 (324‘000). Und in die andere Richtung gilt Ähnliches: Über 10 Prozent aller Schweizer Bürger leben im Ausland. Das sind alles ungewöhnlich hohe Werte. Der Aussenhandel ist ein anderes Beispiel: Wir exportieren 72 Prozent und importieren 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Der OECD-Durchschnitt liegt bei je 29 Prozent. Oder nehmen Sie die Direktinvestitionen: Der Bestand der schweizerischen Direktinvestitionen im Ausland entsprach 2013 einem Gegenwert von über einer Billion Schweizer Franken. Und die Schweizer Firmen beschäftigen im Ausland insgesamt 3 Mio. Menschen.

Was sind die Hintergründe für eine offene und internationale Schweiz?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens sind kleinere Staaten zum Austausch und zur Offenheit verurteilt, sie können nicht autark leben, sie können sich nicht abschotten – in jeglicher Hinsicht. Sie brauchen grössere Absatzmärkte und sie brauchen oft Arbeitskräfte. So ist es durchaus symptomatisch, dass in Europa nur Luxemburg, die baltischen Staaten oder Liechtenstein ähnlich hohe Ausländerzahlen aufweisen wie die Schweiz. Zweitens ist die Schweiz arm an Ressourcen, man musste also vieles importieren. Eine der wenigen Ressourcen ist, drittens, die Schönheit der Landschaft, was die Schweiz früh zu einem Fremdenverkehrsland par excellence werden liess. Das brachte europaweite und später weltweite Kontakte. Dann machte, viertens, die grosse Diversität im Innern, also die Vielfalt der Sprachen und Religionen, die Offenheit leichter und natürlicher. Da man gewohnt war, mit der Andersartigkeit im eigenen Land umzugehen, war es auch einfacher, Fremde aufzunehmen. So nahm die Schweiz immer wieder ganze Immigrationswellen auf, etwa die Hugenotten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes Ende des 17. bzw. Anfang des 18. Jahrhunderts, Revolutionäre und Aufständische aus Deutschland im 19. Jahrhundert, Flüchtlinge aus Ungarn und der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert.

Welchen Einfluss hat die Internationalität der Schweiz heute auf unseren Wohlstand?

Ich bin überzeugt, dass die Internationalität ein Schlüssel unseres Wohlstands war und weiterhin ist. Schauen Sie sich die Liste der grossen Schweizer Unternehmen an, Nestlé, ABB, die Basler Pharmagiganten, überall spielten bei der Gründung Ausländer eine entscheidende Rolle. Und heute: Wir leben ja auf eine gewisse Art über unsere Verhältnisse. Dass wir als kleines Land so viele Global Players beherbergen können, pro Kopf mehr als jedes andere Land, hat damit zu tun, dass wir ganz viele ausländische Arbeitskräfte ins Land geholt haben, und zwar nicht schlecht ausgebildete, sondern Spitzenleute, in der Forschung, in der Lehre, in der Medizin, im Management. Und was wir gerne vergessen: Wir als Land leben zum Teil auch davon, dass unsere Unternehmen so stark im Ausland investiert haben. Was dort an Gewinnen erwirtschaftet wird, was dort an Mehrwert entsteht, kommt auch der Schweizer Bevölkerung zugute, und zwar über die Pensionskassen praktisch allen Bewohnern des Landes.

Zukunftsszenarien: Welches sind die grössten Herausforderungen für eine globalisierte Schweiz? Welche Bedeutung hat der Schweizer Franken, momentan und in Zukunft?

Der starke Franken ist eine Belastung für die Wirtschaft. Aber er ist auch eine Produktivitätspeitsche. Die Schweizer Unternehmen sind auch wettbewerbsfähig, auf dem modernsten technologischen Stand, kreativ und innovativ, weil sie währungsmässig immer wieder unter Druck waren. Der starke Franken wird den Strukturwandel beschleunigen und vorübergehend die Arbeitslosigkeit erhöhen, aber er wird langfristig dem Land mehr nützen als schaden. Und er wird ein Abbild der relativen wirtschaftlichen Stärke des Landes bleiben.

Eine zweite Herausforderung bildet der Arbeitsmarkt. Die Schweiz braucht die Zuwanderung. Aber so sehr diese gesamthaft nützt, so weist sie auch Schattenseiten auf. Die Unternehmen sind gut beraten, die lokalen Ressourcen besser zu nutzen, die Frauen, die älteren Arbeitskräfte. Eine Nettozuwanderung von jährlich zirka 75‘000 Personen oder 0,9 Prozent der Bevölkerung wie durchschnittlich zwischen 2007 und 2013 schafft Akzeptanzprobleme. Es ist niemandem gedient, wenn die Bevölkerung von der Zuwanderung genug bekommt. Daher braucht es eine Balance zwischen Offenheit und Kontrolle und das Bemühen, die Zuwanderung an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes zu orientieren.

Damit verknüpft ist die dritte Herausforderung, unser Verhältnis zur EU. Ich hoffe, dass wir da zu einem vernünftigen Modus vivendi finden. Wir wollen und sollen keine Trittbrettfahrer sein, aber wir wollen auch unsere Eigenständigkeit bewahren. Kooperation, nicht Integration muss die Devise lauten.

Eine vierte Herausforderung sehe ich in der Wohlstandsverwöhnung. Wie alle reichen und erfolgreichen Länder leiden wir an einem Mangel an Risikobereitschaft, an zu wenig Leistungswille, an sinkendem Verantwortungsgefühl. Wir sind zu wenig hungrig – das ist auf Dauer eine der grössten Gefahren.

Und schliesslich machen wir uns, fünftens, wie alle Industriestaaten in Sachen Altersvorsorge etwas vor. Wir leben auf Kosten der nächsten Generationen, wir haben ein Bevölkerungswachstum, das die Renten nicht sichert, wir weisen eine implizite Staatsverschuldung von 167 Prozent des BIP auf, die viel höher ist als die explizite von 36 Prozent des BIP, und die niemand so richtig zur Kenntnis nehmen will.

Welche Reformen braucht die Schweiz, um auch in Zukunft global erfolgreich zu sein?

Ich könnte jetzt eine lange Liste nennen, schliesslich ist es unsere Aufgabe als Think Tank, auf Reformbedarf hinzuweisen. Aber wenn ich mich auf einige wenige Anliegen konzentrieren müsste, würde ich folgende drei nennen: Einen deutlichen Regulierungsabbau (nicht zuletzt auch bei den flankierenden Massnahmen), eine massive Vereinfachung des Steuersystems und eine klare Anhebung des faktischen Rentenalters.

Und welches sind die grössten Chancen, gerade für unsere KMU?

Ich bin überzeugt, dass Kleinheit eine Chance ist, für ein Land genauso wie für ein Unternehmen. Kleine Institutionen sind schnell, flexibel, anpassungsfähig. Zu den wertvollen Rahmenbedingungen, die gerade für KMU von Vorteil sind, zähle ich den Föderalismus und den Steuerwettbewerb, die Bürgernähe dank Direkter Demokratie und dem Milizgedanken, die relativ geringe Staatsverschuldung, eine alles in allem kundenorientierte staatliche Verwaltung und den hohen Stellenwert der dualen Bildung.

Gibt es ein Alleinstellungsmerkmal, einen USP, für die Schweiz?

Für mich sticht die Schweiz aus den Mitbewerbern hervor, weil sie stabil ist, kontrolliert offen, relativ liberal, ausserhalb der EU stehend, aber mitten in Europa liegend, mit einer eigenständigen Währung und mit einem ausgeprägten Qualitäts- und Präzisionssinn.

Welche drei Wünsche haben Sie an international tätige Zentralschweizer Unternehmen?

Nutzen Sie das Internet für das Marketing. Nutzen Sie die lokalen Ressourcen. Bleiben Sie so innovativ wie möglich.

Interview: Felix Howald und Camilla Zenoni, «Special Review 5. Zentralschweizer Wirtschaftsforum», 08.September 2015.