Mit der Verfassungsänderung vom 9. Februar 2014 fällt die Bestimmung von Höhe und Struktur der Zuwanderung in die Kompetenz der Politik. Auf operationeller Ebene liegt die Festlegung der Höchstzahlen vermutlich im Ermessen von Bundesrat und Behörden. Solch eine diskretionäre Einwanderungspolitik kann Nachteile haben: Willkür, Einfluss von Partikularinteressen und Lobbying, Bürokratie, Inflexibilität und Ineffizienz zählen zu den Risiken. Eine mit Regeln kombinierte Gesamtkontingentierung könnte diese Nachteile einschränken.
Die Zuwanderung in die Schweiz ist seit je weitgehend ein Abbild der wirtschaftlichen Entwicklung. Netto, also nach Abzug der Abwanderung, erreichte sie jeweils Höchststände in Aufschwungphasen – wenn die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg – und verringerte sich wieder während Abschwüngen (vgl. Abbildung Plakat «Magnet Schweiz»).
Seit 2001 nimmt der Wanderungssaldo allerdings stark zu: Um durchschnittlich rund 66 000 Personen jährlich ist die ständige ausländische Wohnbevölkerung gemäss Daten des Bundesamts für Migration zwischen 2001 und 2013 gewachsen. Von 1990 bis 2000 betrug die jährliche Zunahme mit 34 000 nur gut die Hälfte. Eine Zäsur brachte 2007 das volle Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens (FZA) mit der Europäischen Union (EU): Der Migrationssaldo von rund 100 000 im Folgejahr 2008 war einer der bisher höchsten. Seither verharrt die Zuwanderung mit netto über 75 000 Personen pro Jahr auf konstant hohem Niveau (vgl. Abbildung).
Die Beziehung zwischen Konjunktur und Zuwanderung ist wechselseitig: Einerseits zieht eine günstige Wirtschaftsentwicklung Zuwanderer an; das gilt vor allem dann, wenn andere Volkswirtschaften nicht so stark boomen. Anderseits kann die Zuwanderung einen Aufschwung verstärken. Es entsteht eine Spiralbewegung. In den vergangenen Jahren kam nun zum Attraktivitätsgefälle zwischen der Schweiz und dem mit der Krise kämpfenden restlichen Europa die gegenseitige Gewährung der Personenfreizügigkeit – da können die hohen Zuwanderungszahlen kaum überraschen.
Kriterien für Kontingenthöhe
Bei der Festlegung des Gesamtkontingents muss gemäss Verfassungstext den Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung getragen werden. Man könnte diese Bedürfnisse mittels Unternehmensbefragungen schätzen. Allerdings muss dabei damit gerechnet werden, dass die Unternehmen aus strategischen Überlegungen einen übertriebenen Bedarf melden. Man könnte die «notwendige» Zuwanderung auch mittels makroökonomischer Modelle schätzen. Solche Methoden bieten aber nur grobe Anhaltspunkte. Zudem hängt der Ausländerbestand nicht nur von der Brutto-Zuwanderung ab, sondern auch von der Sesshaftigkeit der ausländischen Bevölkerung beziehungsweise von der Abwanderung. Diese ist kaum zu steuern. Kürzere und strengere Bewilligungsformen, die eine bessere Planung der Abwanderung zuliessen, sind nicht sinnvoll und kämen einer Wiedereinführung des Saisonnier-Statuts gleich. Am Anfang jeder Kontingentierung steht eine nach freiem Ermessen bestimmte Gesamthöhe. Die in der folgenden Übersicht präsentierten Methoden sollen helfen, die Festlegung dieser Zielgrösse möglichst einfach, planbar und flexibel vorzunehmen.
1. Jährliche absolute Obergrenze
Die einfachste Form der Beschränkung ist in der Schweiz für die Migration von ausserhalb der EU/EFTA heute Praxis: Eine absolute jährliche Obergrenze der Zuwanderung. Der Bundesrat legte ein solches Kontingent erstmals 1970 fest im Rahmen der sogenannten Globalplafonierung. Er bestimmte dieses Kontingent jährlich auf der Basis von Abwanderung und Todesfällen der erwerbstätigen Ausländer im Vorjahr mit dem Ziel, den Ausländeranteil konstant zu halten. Auch Einbürgerungen und Heiraten flossen jeweils in die Bestimmung der Zielgrösse ein. Die Globalplafonierung verfehlte die angestrebte Reduktion der Netto-Zuwanderung. Wegen Familiennachzug und Umwandlung der Zulassungen in langfristige Aufenthaltsbewilligungen war bis 1999 nur rund ein Fünftel des jährlichen Zuwanderungsstroms von den Kontingenten betroffen. Sie legte aber den Grundstein für die heute geltende Kontingentierung für Staaten ausserhalb der EU/EFTA. Der Bundesrat setzt die Höchstzahlen unter Berücksichtigung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage fest. Auch die Forderungen der Kantone und der Sozialpartner fliessen in den Entscheid ein.
Nach der vollständigen Anwendung des FZA 2007 lockerte der Bundesrat die Kontingentierung für Zuwanderer aus den EU/EFTA-Staaten schrittweise. 2013 vollzog er wegen der hohen Zuwanderung jedoch eine Kehrtwende: Die sogenannte Ventilklausel setzt auch für die zuvor befreiten EU17-Staaten bis Mitte 2014 wieder Kontingente fest: Die Obergrenze liegt bei rund 53 700 langfristigen Bewilligungen für Erwerbstätige (Kategorie B). Für die EU8-Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Ungarn) liegt sie bei 2180 B-Bewilligungen, für die EU2-Staaten (Bulgarien und Rumänien) bei 885 und für Zuwanderer aus allen übrigen Staaten bei insgesamt 3500. Die Kontingente für Kurzaufenthalter sind darin nicht enthalten.
Der Vorteil einer Fortführung dieser Praxis könnte sein, dass der Bund in den vergangenen Jahren einige Erfahrung damit gesammelt hat. Die bisherigen Ausschöpfungsquoten der Kontingente geben einen Hinweis auf die Nachfrageschwankungen der Wirtschaft. Der Nachteil einer fallweisen Vergabe ist dagegen die eingeschränkte Reaktionsmöglichkeit auf die Konjunktur. Zwar hat der Bundesrat in der Vergangenheit kurzfristig nachträgliche Erhöhungen bewilligt. Dies schränkt die Planungssicherheit der Unternehmen aber stark ein. Die jährliche Festlegung ist grossem politischen Druck ausgesetzt und wird durch regionale und branchenspezifische Partikularinteressen beeinflusst.
2. Bindung an andere Kennzahlen
Statt auf dem Ermessen des Bundesrates und der Verwaltung könnte die Beschränkung der Netto-Zuwanderung auch auf Regeln basieren. So könnte sie etwa an die ständige Wohnbevölkerung oder an den durchschnittlichen Wanderungssaldo der EU geknüpft werden. Zwischen 1990 und 1999 bewegte sich die jährliche Netto-Zuwanderung durchschnittlich ungefähr in der Höhe von 0,5 % der ständigen Wohnbevölkerung. In der Periode 2000 bis 2013 lag sie bei rund 0,85 %. Nimmt man nur den Zeitraum von 2007 bis 2012, lag der jährliche Migrationssaldo sogar bei durchschnittlich 1,05 % der ständigen Wohnbevölkerung. Würde man diesen Migrationssaldo begrenzen, fände natürlich weiterhin eine Netto-Zuwanderung statt, nur eben in geringerem Ausmass als in den letzten Jahren. Man könnte diesen Saldo nun, statt ihn von Jahr zu Jahr neu zu fixieren, an das natürliche Wachstum der schweizerischen Wohnbevölkerung (Geburtenüberschuss) binden. Das entzöge die Festlegung dem Ermessen der Verwaltung, aber auch dem politischen Druck einzelner Interessengruppen. Die Koppelung könnte sich jedoch insofern als kontraproduktiv erweisen, als ja gerade bei einem langsamen Wachstum der Schweizer Bevölkerung eine stärkere Einwanderung nötig werden könnte – mit Blick auf das Wirtschaftswachstum, die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen.
Eine andere Möglichkeit wäre es, die Netto-Zuwanderung in die Schweiz an den durchschnittlichen Migrationssaldo der EU-Staaten zu binden. Dieser lag in den vergangenen Jahren konstant bei etwa 0,4 % (eigene Berechnungen auf Basis von Eurostat-Daten). In der Schweiz lag er in den letzten Jahren bei rund 1,05 % – mehr als doppelt so hoch als in der EU. Mit einem maximal zulässigen Prozentsatz, der zwischen dem aktuellen Niveau der Schweiz und jenem der EU liegt, bliebe die Schweiz trotz einer Senkung gegenüber den derzeitigen Spitzenwerten immer noch weit offener als die EU. Weil zudem kleine Volkswirtschaften in der Regel offener sind als grosse, könnte die Schweiz ihre Zuwanderungsgrenzen auch an die Netto-Zuwanderung der kleineren und mittleren EU-Länder binden. So oder so machte man allerdings mit einer solchen Regel die Zuwanderung von der Netto-Zuwanderung in der EU abhängig. Sänke diese, könnte sich die Beschränkung als zu einschneidend erweisen.
3. Längerfristige Obergrenzen
Statt die maximal zulässige Höhe der Zuwanderung jährlich neu festzulegen, könnte eine durchschnittliche jährliche Netto-Zuwanderung von z. B. 50 000 Personen festgesetzt werden. Diese Limite müsste nicht jedes Jahr, sondern nur im Durchschnitt einer zu bestimmenden Periode, z. B. 10 Jahre, eingehalten werden. Welcher Anteil des Gesamtkontingents jährlich ausgeschöpft wird, hinge von der Nachfrage nach Arbeitskräften ab. Der Jahresdurchschnitt diente als Ziel grösse und Orientierungshilfe. Genau das gleiche Resultat erhielte man, wenn man eine Zielgrösse für die ständige Wohnbevölkerung ins Auge fasste, z. B. 9 Millionen im Jahr 2025, und daraus das zugelassene durchschnittliche Wachstum der Zuwanderung ableitete. Dieses Vorgehen erlaubt eine flexiblere Anpassung an kaum vorhersehbare Entwicklungen. Kontingente, die in einem Jahr nicht ausgeschöpft werden, können auf die Folgejahre übertragen werden. Umgekehrt kann bei grosser Nachfrage die jährliche Zielgrösse auch einmal überschritten und in den folgenden Jahren kompensiert werden.
Eine etwas raffiniertere Variante eines längerfristigen Zuwanderungsziels wäre – inspiriert von der Schuldenbremse des Bundes – die Bindung der Kontingenthöhe an den Konjunkturzyklus. Ziel der Schuldenbremse ist ein über den Konjunkturzyklus hinweg ausgeglichener Bundeshaushalt, Ziel der Zuwanderungs-Regel wäre dagegen das Nicht-Überschreiten einer bestimmten Höhe der Netto-Zuwanderung über einen Konjunkturzyklus hinweg. Bei konjunkturellen Rückschlägen würde der langfristige Pfad unterschritten, bei beschleunigtem Wachstum dagegen übertroffen. Die jährlichen Höchstgrenzen würden durch Multiplikation des angepeilten durchschnittlichen Migrationssaldos mit einem Konjunkturfaktor (z. B. Trend-BIP/effektives BIP) berechnet. Natürlich ist ein solcher Mechanismus in höchstem Grade prozyklisch und verstärkt Rezessionen oder Überhitzungen. Gleichzeitig entschärft er aber Beschäftigungsengpässe in konjunkturellen Aufschwüngen, lässt sich relativ unbürokratisch handhaben und bietet klare Spielregeln.
Mehr zu diesem Thema finden Sie in der Publikation «avenir spezial: Gelenkte Zuwanderung».