Eine ausufernde Bürokratie ist kein Resultat des 20. oder 21. Jahrhunderts, und schon gar nicht typisch für die Schweiz. Noch ist die Kritik daran neu: Bereits im 19. Jahrhundert persiflierte Charles Dickens in einem seiner Romane die Bürokratie als ein «Amt für Umschweife», das sich mit allem beschäftigt, aber vor lauter Hin und Her nichts zustande bringt; schlimmer gar: jeden Fortschritt ausbremst. Dies kann die Regel sein – muss aber nicht. In den 1990er Jahren erfolgte dank dem Swisslex-Paket in verschiedenen Bereichen eine Teil-Liberalisierung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Der Motor hinter diesem Reformschub war die damalige Wachstumsschwäche.
Seit mehreren Jahren schlägt aber das Pendel zurück. So sollen beispielsweise die Lex Koller ausgeweitet, eine Investitionskontrolle eingeführt und die flankierenden Massnahmen gegenüber der EU – trotz des anhaltenden Verstosses gegen die bilateralen Verträge – aufrechterhalten werden. Gewerkschaften fordern gar eine Ausweitung der Kontrollen. Im Staatsauftrag patrouillieren bereits heute Bürokraten der Verwaltung und von Verbänden quer durch die Schweiz, um Sünder aufzuspüren, die wiederum ausländische Arbeitnehmende mindestens acht Tage vor ihrem Einsatz anmelden müssen. Acht Tage – eine bürokratisch festgelegte Frist und eine Ewigkeit im digitalen Zeitalter.
Aufblähung des Staates
Die Ausweitung der Regulierung trägt zumindest teilweise zu einer Aufblähung des Staates bei. Seit 2000 ist der Aufwand der öffentlichen Hand um 44% angestiegen, von 155 Mrd. Fr. auf 223 Mrd. Fr. (2018; Eidgenössische Finanzverwaltung 2020). Mehr als 4,4 Mrd. Fr. oder rund 2% beträgt der Anteil der Landwirtschaft an den gesamten staatlichen Aufwendungen – eine stolze Zahl für einen Wirtschaftssektor, der gerade einmal 0,6% der Wertschöpfung auf sich vereint (Dümmler und Bonato 2020). Um die Ausgaben zu legitimieren, braucht es entsprechende Rechtstexte, die Regulationsdichte des Sektors ist entsprechend hoch. Abgeleitet von zwei Landwirtschaftsartikeln in der Bundesverfassung (Art. 104 und 104a) wuchert ein Regulierungsdickicht von 3083 Seiten auf Bundesebene (vgl. Tabelle), ergänzt um Erlasse für den Vollzug in den einzelnen Kantonen. Bern, der grösste «Landwirtschaftskanton», zählt 15 Bestimmungen auf insgesamt 196 Seiten.
Tabelle: Tausende Seiten Regulierung in der Agrarpolitik Die öffentlichen Ausgaben von mehr als 4,4 Mrd. Fr. für die Agrarpolitik wird mit Tausenden Seiten Rechtstexte legitimiert. Hinzuzuzählen sind die Erlasse auf kantonaler Ebene für den Vollzug, die mehrere hundert Seiten betragen können. |
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Themenbereiche (offizielle Bezeichnungen) | Rechtstexte | Seitenzahl |
Landwirtschaftliche Produktion | ||
Förderung der Landwirtschaft im Allgemeinen | ||
Bäuerlicher Grundbesitz | ||
Landwirtschaftliche Strukturverbesserungen | ||
Vollzug des Landwirtschaftsgesetzes | ||
Landwirtschaftliches Bildungs- und Forschungswesen | ||
Soziale Sicherheit | ||
Landwirtschaftlicher Kredit | ||
Landwirtschaftliche Produktionskataster | ||
Total Bund | ||
Quellen : Eigene Auswertung basierend auf Bundesrat – Landesrecht (2020) und Kanton Bern – BELEX (2020) |
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Bei sehr konservativer Annahme von durchschnittlich 50 Seiten pro Kanton dürften schweizweit über 4000 Seiten landwirtschaftlich relevanter Rechtstexte die hiesigen Amtsstuben füllen. Zum Vergleich: Die systematische Rechtssammlung des Bundes weist für die Energiewirtschaft auf eidgenössischer Ebene 75 Texte aus, mit insgesamt 1468 Seiten – also rund die Hälfte. In punkto Schadenshöhe und Häufigkeit schätzt der Bund eine Strommangellage gar als das relevanteste Risiko für die Schweiz ein, weit vor verschiedenen Wetterlagen, die auch die Produktion und Versorgung mit Nahrungsmitteln beeinträchtigen könnten (Babs 2020).
Ganz generell sind Gesetze und Vorschriften die Grundlagen bürokratischen Handelns. Sie führen zu einer gewissen Normierung, was aber dem Einzelfall nicht immer gerecht wird. Deshalb gibt es viele Ausnahme- und Sonderregelungen, was zu einem immer komplizierter werdenden System von Rechtsvorschriften führt. Ein Beispiel ist der Mineralölsteuerzuschlag, den grundsätzlich alle zu bezahlen haben, wenn es da nicht Ausnahmen für mehrere Branchen gäbe, darunter für die Landwirtschaft. Ein weiteres Beispiel ist der reduzierte Mehrwertsteuersatz auf Pflanzenschutzmitteln. Fossile Treibstoffe wie auch Pflanzenschutzmittel stehen seit Jahren in der öffentlichen Kritik, eine steuerliche Bevorzugung – und der entsprechende Rechtstext – ist immer schwieriger zu rechtfertigen.
Detaillierte Vorschriften
Am umfangreichsten geregelt ist die «Landwirtschaftliche Produktion»: Ganze 84 Rechtserlasse und über 2300 Seiten widmen sich dem Thema. Geregelt werden «Höchstbestände in der Fleisch- und Eierproduktion» – was planwirtschaftliche Züge trägt – bis hin zur Verordnung über die Produktion und das Inverkehrbringen von Futtermitteln, die sogenannte «Futtermittelbuch-Verordnung». Auch die Marktordnung für Schnittblumen wird formaljuristisch abgehandelt (Verordnung über die Ein- und Ausfuhr von Gemüse, Obst und Gartenbauerzeugnissen). Eine Besonderheit stellt die Milch dar (vgl. Textbox 1).
Verordnung über die Zulagen und die Datenerfassung im Milchbereich
Wohl kaum ein Agrarerzeugnis geniesst seit Jahrzehnten mehr politische Aufmerksamkeit als die Milch. Wurde früher die hergestellte Menge subventioniert – was regelmässig zu den berühmten Milchseen und Butterbergen führte – fällt heute die Marktpreisstützung differenzierter aus. So regelt die «Verordnung über die Zulagen und die Datenerfassung im Milchbereich» auf zehn Seiten minutiös, wer eine Zulage erhält, was das Verfahren ist und wie die Daten aufgezeichnet, gemeldet und aufbewahrt werden müssen. Im Anhang finden sich «Umrechnungsfaktoren für die Zulagen für Milch, die mittels Zentrifugieren [sic!] auf einen bestimmten Fettgehalt eingestellt wird». Zulagen erhalten Milchproduzenten, wenn aus ihrer Milch z.B. «Werdenberger Sauerkäse, Liechtensteiner Sauerkäse oder Bloderkäse» hergestellt wird, aber nicht, wenn aus der Milch Quark produziert wird (Art. 1c, Abs. 2 und 3). Der Aufwand scheint betriebs- und verwaltungsseitig gross, der volkswirtschaftliche Nutzen dürfte negativ sein. Menge und Preis der Milch aber dem Markt zu überlassen, ist politisch kein Thema.
Das Übermass an Verrechtlichung der landwirtschaftlichen Produktion muss nicht nur auf bäuerlicher Ebene umgesetzt, sondern die Einhaltung der Rechtstexte muss auch behördenseitig kontrolliert werden. Dies geschieht nicht nur durch die Prüfung von Produkten und Vor-Ort-Besuchen, sondern vielfach auch durch Rechenschaftsberichte, die die Landwirte selbst zu erstellen haben. So ist beispielsweise für die Teilnahme an den Tierwohl-Programmen Raus/BTS ein sogenanntes «Auslaufjournal» zu führen, die Kantone stellen dazu ein Formular bereit.
Die Überregulierung der Landwirtschaft führt zu Kosten auf Seiten der Behörden und der Wirtschaft. Parlamentarische Vorstösse, die dies zu korrigieren versuchen, werden deshalb regelmässig debattiert (z.B. Bundesversammlung 2018). Eine grössere Übung, die Bürokratie abzubauen startete 2015, vom Bundesamt für Landwirtschaft unter dem Titel «Administrative Vereinfachungen» geführt. Es kamen 800 – teilweise deckungsgleiche – Vorschläge zusammen, 40 davon werden etappenweise umgesetzt und sind beispielsweise in die Agrarpolitik 22+ eingeflossen (Bundesamt für Landwirtschaft 2019), der seitens der Agrarlobby aber heftige Opposition erwächst. Den grossen regulatorischen Befreiungsschlag stellen die umgesetzten Ideen nicht dar, dafür diskutiert man zu stark auf einer rein operativen Ebene, statt die strategischen Leitlinien der Schweizer Agrarpolitik kritisch zu hinterfragen.