Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre hat in den marktwirtschaftlichen und liberalen Gesellschaften des Westens zu einer grossen Verunsicherung geführt. Ist diese Krise auch eine Folge des Verlusts einer gemeinsamen moralischen Basis? Braucht es gerade in freiheitlichen Gesellschaften einen Wertekonsens unter den Bürgern? Welcher Art müssten diese gemeinsamen Werte sein? Wie entstehen sie? Wie steht es um sie heute? Sind sie bedroht – und wodurch? Was können wir zu ihrer Verteidigung tun? Avenir Suisse hat in Zürich zusammen mit dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln eine Tagung zum Thema «Wertekrise» abgehalten. Verschiedene Experten beleuchteten diese durchaus kontroversen Fragen.
Gerhard Schwarz: «Liberale Werte sind wichtig, damit die liberale Sicht der Dinge im politischen Prozess Erfolg haben kann.»
In seiner Eröffnungsrede nannte Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz drei Gründe, warum es für Liberale wichtig ist, sich mit Werten zu beschäftigen:
- Taktische Überlegungen: Konservative wie Sozialisten sind in hohem Masse Moralisten. Liberale Werte sind auch deshalb wichtig, damit die liberale Sicht der Dinge im politischen Prozess Erfolg haben kann.
- Moralische Überlegungen: Ohne Freiheit ist moralisches Handeln gar nicht möglich.
- Überlegungen zur Freiheitssicherung: Mit der Freiheit kompatible, allgemein anerkannte Werte sind wichtig, damit man im Zusammenleben mit möglichst wenig staatlichen Gesetzen und Sanktionen auskommt.
Hier einige Zitate aus seiner Rede:
«Auch Liberale brauchen eine zeitgemässe Vision, die nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz anspricht. ..Liberale Werte sind wichtig, damit die liberale Sicht der Dinge im politischen Prozess Erfolg haben kann.»
«Es sind nicht Ordnungen oder Systeme, sondern Menschen, die «versagen». «Versagt» haben Menschen in der Wirtschaft und in der Politik, und auch nicht nur Führungskräfte, sondern viele andere ebenfalls.»
«Eine freie Ordnung kommt nicht ohne Moralproduktion jenseits von Angebot und Nachfrage aus. Sie spart zwar am knappen Gut Moral, aber nur mit Gaunern kann sie gleichwohl nicht funktionieren.»
«Deswegen steht es jenen, die für eine freie Ordnung eintreten, gut an, sich nicht nur für liberale Spielregeln einzusetzen und sich um den Rest nicht zu kümmern, sondern von den Führungskräften in Gesellschaft und Wirtschaft – ganz altmodisch – Tugendhaftigkeit einzufordern.
…Damit wird auf doppelte Weise die freie Ordnung gesichert, einerseits, indem sie dank genügend tugendhaften Menschen überhaupt erst funktioniert und anderseits, indem sie nur so jene Akzeptanz und Glaubwürdigkeit gewinnt, die ihr das Überleben in der Demokratie ermöglicht.»
Michael Hüther: «Der Mensch ist auch ein homo sociologicus»
Die Werte sind ein Problem, nicht für die Ökonomen, wohl aber für die Ökonomik. Der homo oeconomicus kennt als Entscheidungs- und Handlungsmaxime nur den Eigennutz. Jeder Mensch ist aber auch homo sociologicus, also in eine Gemeinschaft eingebunden und durch Rollenerwartungen geprägt.
Auf die Frage, wozu wir Werte benötigen, gibt die Marktökonomik drei Antworten:
1. Werte haben beachtliche Wirkungen, weil sie die Entscheidungen und Handlungen der Menschen in gegebenen Ordnungen prägen. So lässt sich erklären, weshalb sie sich nicht immer wie der homo oeconomicus verhalten.
2. Werte sind ebenso bedeutsam bei der Gestaltung der Ordnungen, Regelwerke sowie Verfahren zum Interessenausgleich. Normen dienen dazu, Werte im Alltag wirkungsmächtig zu machen. Und Werte führen dazu, dass sich Gesellschaften im globalen Wettbewerb differenzieren, weil sie Handlungsorientierungen aus historischer Erfahrung ableiten.
3. Ordnungspolitik bedarf der bewussten Reflexion über Werte als Handelsorientierung, vor allem über den Gegensatz zwischen dem homo oeconomicus und dem homo sociologicus. So erst entsteht eine Grundlage für eine dauerhafte Verbindung aus individueller Kompetenz, Freiheit und Verantwortung.
Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.
Pfarrer Peter Ruch: «Der Fundamentalismus ist ein Symptom dafür, dass viele Menschen sich nicht auf ihren Wertekompass verlassen können»
Wittgenstein schrieb: «In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert.»
Der Christusgläubige ist dagegen der Ansicht, dass es Botschaften von «ausserhalb der Welt» gibt. Sie sind in der Bibel überliefert und lassen sich interpretieren:
1. Gott schuf Himmel und Erde: Alles Geschehen ist also nicht zufällig, sondern etwas steckt dahinter.
2. Gott redet zu Noah, Abraham, Jakob und Mose und gibt ihnen Aufträge. Es gibt also «so etwas wie ein Magnetfeld, in dem sich die Ereignisse abspielen. Und: Gott offenbart sich.
3. Die Propheten kritisieren die Einhaltung der Gebote, zum Beispiel beim Opfern, wenn es zwar vorschriftsgemäße abläuft, aber gleichwohl Gott missfällt, weil es nicht mit Werten erfüllt ist. Der Fundamentalismus ist ein Symptom dafür, dass viele Menschen sich nicht auf ihren Wertekompass verlassen können und deshalb Zuflucht suchen bei Regeln, Riten und Abgrenzungen.
4. Paulus schreibt: «Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.» Der Satz könnte als Grundlage einer christlichen Werteordnung gelten. «Christus ist derjenige, der nicht für sich, sondern für andere einsteht – bis zum Tod.»
Peter Ruch ist Pfarrer in Küssnacht am Rigi.
Dominik Enste: «Auch einmal zufrieden sein mit dem, was man hat»
Trotz guter Wirtschaftslage und wachsendem Wohlstand nimmt die Akzeptanz einer liberalen Ordnung ständig ab. In Deutschland stimmt heute nur noch eine Minderheit der sozialen Marktwirtschaft zu. Wie lässt sich dies erklären?
Das Moralempfinden ist verankert im präfrontalen Kortex. Wie etwa Ernst Fehr gezeigt hat, lässt sich das Verhalten der Menschen verändern, wenn diese Hirnregion stimuliert wird: Die Gier etwa hat also eine neurologische Grundlage.
Unser Moralgefühl ist geprägt durch die Evolution, also das Zusammenleben in den kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern. Diese verfügten nicht über Eigentum und pflegten deshalb ein egalitäres Gerechtigkeitsverständnis. Es herrscht in der Laienökonomie noch heute vor, wie Studien zeigen, so im statischen Denken, das davon ausgeht, dass nur ein Kuchen zu verteilen ist, und das sich Wachstum nicht vorstellen kann.
Für eine liberale Ordnung gibt es keine Intuition: Man muss lange internalisiert haben, dass Effizienz wichtiger ist als Gerechtigkeit, auch Lehrer oder Wirtschaftsjournalisten haben es nicht.
Was ist zu tun?
1. In der Politik ist die Psychologie zu beachten, um zu besseren, langfristigeren Entscheiden zu kommen, etwa mit Schuldenbremsen.
2. Die Unternehmen müssen sich bewusst machen, dass sie die Akzeptanz immer wieder gewinnen müssen, also beim Einsatz für eine freie Ordnung nicht Trittbrettfahren dürfen.
3. Die Individuen sollten nicht nur stets ihren Nutzen maximieren, sondern auch zufrieden sein mit dem, was sie haben, sei es Auto oder Lebenspartner.
Prof. Dr. Dominik Enste forscht am IW Köln im Bereich Institutionenökonomik.
Thomas Petersen: «Die Leistungsorientierung der jungen Deutschen steigt wieder»
Die gefühlte Gerechtigkeit hat in Deutschland abgenommen: In Befragungen beurteilen knapp 60% der Deutschen die herrschenden sozialen Verhältnisse als ungerecht. 82% haben den Eindruck, es gebe immer mehr Arme. Gleichzeitig aber kennen 64% der Befragten niemand in ihrem Bekanntenkreis, der wirklich arm ist.
Eine Analyse der wirtschaftlichen Kennzahlen beweist die gefühlte Ungleichheit nicht, im Gegenteil: Die Einkommensschere ist in den letzten beiden Jahrzehnten de facto unverändert blieben, und pro Bürger wird heute inflationsbereinigt doppelt so viel ausgegeben wie noch vor dreissig Jahren.
Die Erklärung: Die Werte der Bevölkerung haben sich verändert, und insgesamt kann eine klare Verschiebung nach links festgestellt werden. Ein Teil dieser Wertentwicklung ist auf die Integration der DDR in das westdeutsche Wirtschafts- und Rechtssystem zurückzuführen und somit historisch erklärbar.
Aber gerade wenn man die Umfragewerte der Jungen Deutschen analysiert, so gibt dies Anlass zu Optimismus: 69% der unter 30-jährigen Ostdeutschen sind mittlerweile wieder der Meinung, ihres «eigenen Glückes Schmied» zu sein (Westdeutschland: 54%). Auch bei der Kindererziehung ist in den vergangenen Jahren eine Renaissance liberaler Werte festzustellen.
Prof. Dr. Thomas Petersen ist am Institut für Demoskopie in Allensbach tätig.
Guy Kirsch: «Der moralische Rahmen ist explodiert. Der Einzelne kann wählen, wer er sein will.»
Unser Problem besteht gegenwärtig nicht darin, dass in unserer Gesellschaft immer weniger Werte Geltung haben, sondern dass wir es mit einer wachsenden Vielzahl und einer zunehmenden Vielfalt von Werten zu tun haben. Dies kann ein Übel sein; es kann auch eine Chance sein.
Der Einzelne hat nicht nur ein «self interest», sondern auch ein «interest in his own self». Er strebt nicht eine Maximierung seines «self interest» an; auch ist er nicht darauf aus, das «interest in his own self» maximal zu befriedigen. Vielmehr strebt er einen aus seiner Sicht optimalen Mix von Haben und Sein an. Ist dem aber so, dann kann man realistischerweise davon ausgehen, dass das Handeln der Menschen auch wertgeleitet ist.
Für die meisten gilt, dass sie ihr Selbst mit Bezug auf einen Wertekatalog definieren, den sie mit anderen teilen. Sie bewohnen also mit anderen, in der Sprache von Charles Taylor, einen «moral space». Nun spricht vieles dafür, dass der eine moralische Raum sich keineswegs einfach in nichts aufgelöst hat, sondern dass er in eine Vielzahl und eine Vielfalt von «moral spaces» zerfallen ist. Man kann sagen: Er ist nicht implodiert, sondern explodiert.
Der Einzelne kann nicht mehr in einer Gesellschaft mit Bezug zu einem Wertekanon erkennen und bekennen, wer er ist: Vielmehr muss er jetzt als Teilnehmer an einzelnen Szenen sein Selbst gleichsam aus vielen Versatzstücken zusammensetzen. Hier erwächst dem Menschen auch die Möglichkeit einer neuen Freiheit: Er muss jetzt nicht mehr jemand Bestimmter sein, vielmehr kann er wählen, wer er sein soll. Allerdings bedeutet diese Freiheit für den Einzelnen auch, dass er die Verantwortung für sein Selbst tragen muss.
Guy Kirsch ist Prof. em. der Universität Fribourg.
Zitate aus der Podiumsdiskussion.
Gerhard Schwarz:
«Ist es konsistent, wenn wir als Liberale sagen: Es gibt einen absoluten Wert, nämlich die Freiheit, und bei anderen Werten ziehen wir uns zurück? Gibt es irgendwo eine Grenze, bei der man eingreifen muss? Muss man ab und zu freiheitseinengende Massnahmen akzeptieren, um die Freiheit als Ganzes zu schützen?»
«Es gibt sehr menschliche und moralische Gründe, dass man den Schwächeren hilft, aber das sind nicht liberale Gründe.»
Nils Goldschmidt (Hochschule für angewandte Wissenschaften, München):
«Zwischen Moral und Gerechtigkeit ist zu unterscheiden: Moral entwickelt sich in einer kleinen Gruppe und bezieht sich auf diese. In einer offenen Gesellschaft braucht es den Gedanken der Gerechtigkeit, der in der Gesellschaft reflektiert wird und für den auf politischem Weg ein Konsens gefunden werden muss.»
«Werte sind Strukturen, die wir in der Gesellschaft setzen, damit wir ein faires und nicht unbedingt moralisches Miteinander erwarten können.»
«Es gibt einen Weg zwischen Eurozentrismus und Kulturrelativismus. Wir sollten aber nicht hinter die Werte der Aufklärung zurücktreten.»
Elham Manea (Universität Zürich):
«Es braucht Mechanismen, um die Minderheiten zu schützen.»
«Es gibt gemeinsame Werte. Diese heissen Menschenrechte und Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Diese Werte sind zu verteidigen.»
«Man darf nicht unterschätzen, wie Fundamentalismus die Freiheit der Menschen beschränken kann. Deshalb gibt es Werte, die man entschlossen verteidigen muss – und zwar auf globaler Ebene.»
«Es ist nicht ein Problem, wenn es Parallelgesellschaften gibt. Aber die Frage ist, in welchem Rahmen diese stehen.»
«Die Grenze für individuelle Werte ist dort, wo Menschen ihrer Freiheit beraubt werden.»
Uwe Justus Wenzel (Neue Zürcher Zeitung):
«Es ist grundsätzlich problematisch, von einer «Wertekrise» zu reden. Werte sind Ausdruck des Zustands einer Gesellschaft.»
«Unsere Werte werden dadurch bedroht, dass man sie falsch verteidigt. Den demokratischen, liberalen Rechtsstaat kann man nicht durch Minarettverbote oder Ganzkörperverschleierung verteidigen.»
«Viele rechtliche Regelungen würden schon ausreichen, wenn man sie zur Anwendung brächte.»
Michael Zöller (Universität Bayreuth)
«Werte sind politisch unvermittelbar.»
«Haben wir eine Wahl? Können wir nur mit der formalen Diskussion auskommen und die Werte als Konkretisierungsverbote verstehen, damit es die Konkurrenz zwischen den Werten geben kann?»
Beat Gygi (Moderator, Neue Zürcher Zeitung)
«In der Schweiz empfinde ich 40% der Werte, die mir am Herzen liegen, als bedroht.»
«Wichtig ist, den Föderalismus beizubehalten und eine weitere Zentralisierung unbedingt zu verhindern. Zudem sollten wir unseren Kindern beibringen, sich gegen weitere Eingriffe zu wehren.»
Karen Horn (Schlusswort, Institut der deutschen Wirtschaft, Berlin):
«Die Unschärfe der Wertetagung ist das Ergebnis, das man mit- und hinnehmen muss.»
«Wie kann man Freiheit verteidigen? In dem man sie benennt, sie reflektiert und indem man sie vorlebt.»