Die Bruttolohndifferenz zwischen den Geschlechtern ist ein unzureichendes Mass zur Bewertung der Lohnungleichheit.  Länder, in denen die Erwerbsquote der Frauen tief ist, schneiden dabei systematisch besser ab. Dieser in der Forschung längst etablierte Zusammenhang wird in der politischen Diskussion gerne unterschlagen.

Kritiker betrachten die Schweiz in Sachen Lohngleichheit bestenfalls als Mittelmass. So lamentierte unlängst die Gewerkschaft Unia, dass «hierzulande Frauen für gleiche Arbeit fast einen Fünftel (18.9%) weniger als Männer verdienen – womit die Schweiz weit über dem OECD-Schnitt von 15.2% liegt und auch europaweit einen der hintersten Ränge belegt». Diese Aussagen stützen sich auf Ländervergleiche der Bruttolohndifferenz zwischen den Geschlechtern. Doch diese Differenz stellt – isoliert betrachtet – keinen verlässlichen Indikator dar. Denn sie vernachlässigt die Rolle der Erwerbsquote, die den Anteil der Erwerbstätigen in der Bevölkerung beschreibt. Studien zeigen nämlich, dass die geschlechtsspezifischen Lohndifferenzen tendenziell tiefer sind, wo wenige Frauen einer bezahlten Arbeit nachgehen.

Eine Folge verkrusteter Arbeitsmärkte

Warum ist das so? In vielen Ländern hat politische Überregulierung – Kündigungsschutz, Mindestlöhne, unflexible Lohnbildung, starre Arbeitszeiten u.a. – zur Verkrustung der Arbeitsmärkte geführt, sodass einem wachsenden Teil der aktiven Bevölkerung der Weg in eine stabile Beschäftigung verwehrt bleibt. Ein ineffizienter Arbeitsmarkt führt indes nicht nur zu Arbeitslosigkeit, sondern auch zu einer Veränderung der Erwerbspartizipation. Viele Menschen unternehmen gar nicht erst den Versuch, einen Job zu finden, weil sie es sowieso für aussichtslos halten.

Meist betrifft dies eher Frauen als Männer. Da sich in vielen Ländern die Männer noch immer wesentlich in der Erwerbsverantwortung fühlen, sind es in der Regel die Frauen, die sich unter widrigen Umständen zurückziehen oder verdrängt werden. Dann verbleiben nur die besser gebildeten Frauen auf dem Arbeitsmarkt, denn für sie wären die (Opportunitäts-)Kosten eines Erwerbsverzichts besonders hoch.

Selektion bestimmt Lohnstruktur

Entsprechend ist die Bruttolohndifferenz in Ländern wie Spanien, Italien oder Griechenland mit geringer, beziehungsweise künstlich tief gehaltener Partizipation der Frauen kleiner als in Ländern, deren Arbeitsmärkte die Bevölkerung umfassend integrieren – wie wie es eben in der Schweiz und den Ländern Nordeuropas der Fall ist. So haben die italienischen Ökonominnen Claudia Olivetti und Barbara Petrongolo bereits vor geraumer Zeit gezeigt, dass in den südeuropäischen Ländern besonders die gebildeten Frauen erwerbstätig sind. Würden also mehr italienische oder spanische Frauen einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen, wäre zu erwarten, dass sie tendenziell tiefere Löhne erzielten. Die Effekte solcher Selektionsprozesse auf die gemessene Lohnstruktur und damit auf die Lohndifferenzen werden in der politischen Diskussion unterschätzt oder ausser Acht gelassen – obschon sie in der Forschung längst etabliert sind.