Die Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, aber auch der Schweiz und Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg ist untrennbar mit der «Sozialen Marktwirtschaft» verbunden. Das «Wirtschaftswunder» der 1950er und 1960er Jahre wird oft auf diese ordnungspolitische Konzeption zurückgeführt. Der verführerische Slogan half zudem, Bevölkerungen, die lange in einer staatlich gelenkten Kriegswirtschaft gelebt hatten oder sich von sozialistischen Planwirtschaften beeindrucken liessen, eine halbwegs freie Wirtschaftsordnung zu «verkaufen». Das war vor allem das Verdienst Ludwig Erhards, der als erfolgreicher Wirtschaftsminister (1949–1963) und als politisch glückloser Bundeskanzler (1963–1966) mit Zivilcourage gegen den «Mainstream» kämpfte und sein Versprechen des «Wohlstands für alle» einlöste. Inzwischen haben sich Parteien von rechts bis links der Formel bemächtigt, und da alle «Soziale Marktwirtschaft » anders interpretieren, ist sie zu einem inhaltsleeren Schlagwort verkommen.
Enttäuschte Erwartungen
Deshalb greift man gerne zu einem Buch, das Begriffsklärung verspricht. Sein Autor, Horst Friedrich Wünsche, war von 1973 bis zu Erhards Tod 1977 dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter und hat danach lange Jahre die Ludwig-Erhard-Stiftung geleitet. Doch die Erwartungen werden enttäuscht. Das liegt an der hagiografischen Herangehensweise, der ausholenden, durch viele Wiederholungen geprägten Auslegeordnung und dem Ausblenden von Erkenntnissen der Public-Choice-Schule, vor allem aber an einer weit hergeholten, wenig überzeugenden These.
Natürlich enthält das Buch viel Richtiges. So kann man kaum genug betonen, dass die politische Ökonomie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wertorientiert war und sich nicht als technokratische Instrumentenlehre verstand. Ein Lehrer Erhards, Adolf Günther, bezeichnete das Bemühen um Werturteilsfreiheit gar als Flucht aus der Verantwortung – und Erhard scheint diese Einschätzung geteilt zu haben. Zentral für das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft ist ferner, dass in ihr das Ökonomische kein Selbstzweck ist, sondern es um die Würde des Menschen geht. Immer wieder betont Wünsche, dass die Absage an jede Bevormundung durch den Staat zwar auch mit Wohlstand zu tun hat, aber vor allem mit Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortung. Dankbar ist man für den Hinweis auf Erhards Freiheitsbegriff, der weit weg ist von der modischen Neigung, jeden Mangel als Unfreiheit zu interpretieren. Und da man das Soziale der Marktwirtschaft ausufernd interpretieren kann, ist Wünsches Hinweis wichtig, Erhard habe vor der Verselbständigung der Sozialpolitik gewarnt und soziale Sicherheit nicht durch Einkommensumverteilung angestrebt, sondern durch eine Wirtschaftspolitik, die es jedem ermöglicht, durch eigene Anstrengung für sich und die Seinen vorzusorgen.
Ein Mann der Mitte?
Solche Ansichten findet man auch bei den «Ordoliberalen» zuhauf. Umso unverständlicher ist, mit welcher Penetranz Wünsche versucht, einen Keil zwischen sie und Erhard zu treiben. Besonders betont er den Gegensatz zwischen Erhard und Walter Eucken, er hebt aber auch die Unterschiede zu anderen Liberalen der Nachkriegszeit wie Friedrich von Hayek, Wilhelm Röpke oder Alfred Müller-Armack hervor. Das Leitsätzegesetz von 1948, das eine Freigabe vieler bis dahin regulierter Preise deklarierte, sieht er nicht als Ausdruck «von unerschütterlichem liberalem Urvertrauen», sondern als Versuch eines reibungslosen Übergangs von der behördlichen Produktionslenkung zur Steuerung mittels Preisen. Nicht nur hier gewinnt man den Eindruck, Wünsche wolle Erhard unbedingt als Mann der Mitte positionieren. Gegen Schluss schreibt er reichlich anmassend, Erhards Ordnungsvorstellungen seien in Deutschland nie recht verstanden worden. Vielleicht liegt das ja auch daran, dass es sich bei der «Sozialen Marktwirtschaft» entgegen den Behauptungen Wünsches eben nicht um eine stringente wissenschaftliche Konzeption handelt, sondern eher um ein erfolgreiches wirtschaftspolitisches Programm – was ja nicht ehrenrührig ist.
Horst Friedrich Wünsche: Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft. Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen. Reinbeck/München Lau-Verlag 2015, 459 S.
Diese Buchbesprechung ist am 3. Februar in der NZZ erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der NZZ.