Ende September stimmte Genf der Einführung des obligatorischen Mindestlohns zu. Inzwischen gibt es mit dem Tessin, Neuenburg und Jura bereits vier Kantone, die Mindestlöhne vorschreiben oder demnächst einführen. Weitere Volksinitiativen sind in Vorbereitung, zum Beispiel in den Städten Zürich und Basel.
Damit wird eine hundertjährige Debatte über die Auswirkungen auf die Verwendung des Mindestlohns wiederbelebt. Die Befürworter sehen darin keinen Nachteil – allenfalls sei ein leichter Anstieg der Konsumentenpreise oder eine Verringerung der Unternehmensgewinne zu befürchten.
Dies ist jedoch eine zu vereinfachende Sichtweise. In der Schweiz verdienen 95% der Arbeitnehmer mehr als 23 Franken pro Stunde netto. Ein Mindestlohn unterhalb dieser Schwelle hätte tatsächlich keine drastischen Auswirkungen auf die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften und damit auf die Zahl der Beschäftigten.
Aber Arbeit ist keine Ware wie jede andere – und der Lohn ist nicht der einzige Massstab, um zu beurteilen, ob eine Arbeit attraktiv ist oder nicht. Ökonomen haben in den letzten Jahren aufgezeigt, dass Unternehmen weitere Spielräume haben, um sich an Mindestlöhne anzupassen – und zwar über den Abbau von Arbeitsplätzen hinaus.
Beispielsweise kann die Einführung von Mindestlöhnen dazu führen, dass die Toleranz der Arbeitgeber gegenüber Fehlern ihrer Beschäftigten abnimmt. Die Ansprüche steigen mit dem Preis. Dadurch kann tendenziell ein angespannteres Arbeitsklima entstehen. Auch die Bereitschaft der Unternehmen, flexible Arbeitszeiten zu gewähren, nimmt mit Mindestlöhnen ab, und ganz allgemein werden die nicht-monetären Löhne nach unten angepasst.
Am fragwürdigsten aber ist die Sozialbilanz der Mindestlöhne: Im Gegensatz zu anderen Massnahmen der Armutsbekämpfung wie Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen berücksichtigt der Mindestlohn die wirtschaftliche Situation der Leistungsempfänger nicht und ist daher wenig zielgerichtet. Es gibt Studien, die zeigen, dass eine beträchtliche Anzahl von Personen, die den Mindestlohn erhalten, in wohlhabenden Haushalten leben; etwa Studenten, die in Teilzeit in der Gastronomie oder im Einzelhandel arbeiten.
Gleichzeitig errichtet der Mindestlohn den am stärksten gefährdeten Menschen eine zusätzliche Barriere für den Eintritt in den Arbeitsmarkt. Jene mit geringer beruflicher Qualifikation stehen plötzlich im Wettbewerb mit produktiveren und besser qualifizierten Arbeitnehmern – solchen, die diese Arbeitsplätze ohne Mindestlohn nicht in Betracht gezogen hätten. Wer früher einen Arbeitsplatz gefunden hätte – wenn auch einen unter dem Mindestlohn –ist dann vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen: Für diese Menschen bleibt nur noch ein Nulllohn.