Niemand wird ernsthaft etwas gegen das Ziel einwenden, dass man von der eigenen Arbeit ein anständiges Leben sollte führen können. Entsprechend populär ist die Mindestlohninitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Sie sieht einen generellen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde oder etwa 4000 Franken pro Monat vor. Auf den ersten Blick scheint dies im Hochlohnland Schweiz nicht überrissen hoch.
«Gerechtigkeit» ist nicht die Logik des Arbeitsmarktes
Kann man als sozial verantwortungsvoller Mensch trotzdem gegen einen gesetzlichen Mindestlohn eintreten? Ja, man kann. Die Befürworter von Mindestlöhnen beurteilen das Lohngefüge ausschliesslich durch die «Verteilungsbrille», hinter der nur ein «gerechter» Lohn ein korrekter Lohn ist. Tieflöhne, die nicht zum Leben reichen, sind «ungerecht » und müssen deshalb korrigiert werden. Doch dies entspricht nicht der Logik des Arbeitsmarktes. Löhne sind zwar für die meisten von uns die ökonomische Lebensgrundlage, in erster Linie sind sie aber Preise, die Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zusammenführen, indem sie Knappheit oder Überfluss signalisieren. Hoheitliche Eingriffe ins Lohngefüge behindern oder unterbinden diese zentrale Funktion des Lohnes und führen zu unerwünschten Risiken und Nebenwirkungen.
Ökonomen beurteilen Lohnuntergrenzen kritisch
Die am meisten diskutierte Frage ist, ob durch den künstlich erhöhten Lohn am unteren Ende des Qualifikationsspektrums Stellen für gering Qualifizierte verloren gehen. Ein über den Marktlöhnen liegender Mindestlohn führt nur dann nicht zu Jobverlusten, wenn die Firmen die Mehrkosten vollständig auf die Konsumenten überwälzen können oder keine Möglichkeit haben, die teurere Arbeit mit Maschinen zu ersetzen oder aus dem Betrieb auszulagern. Dies ist in Einzelfällen zwar möglich, der Extremfall einer vollständig unelastischen Arbeitsnachfrage dürfte aber kaum die Regel sein. Aus diesem Grund ist die Mehrheit der Ökonomen gegenüber Mindestlöhnen kritisch eingestellt. Die meisten Studien und die Meta-Analysen für die USA kommen zum Schluss, dass Lohnuntergrenzen der Beschäftigung gering Qualifizierter nicht förderlich sind. Wie viele Jobs im konkreten Fall verloren gehen, hängt entscheidend davon ab, auf welchem Niveau die Untergrenze angesetzt wird. Auch wenn die gemessenen negativen Beschäftigungseffekte in der Regel nicht massiv sind, bleiben die Erfolge hinsichtlich des eigentlichen Ziels einer gleichmässigeren Verteilung bescheiden. Denn der Verlust des Arbeitsplatzes bedeutet für die Betroffenen meist Arbeitslosigkeit, die durch das bessere Einkommen der in Arbeit Verbliebenen aufgewogen werden muss.
Eine einzige Studie als «Kronzeugin»
Trotzdem wird das Thema auch kontrovers diskutiert. In einer viel beachteten Studie von Dube, Lester und Reich (2010) konnten in den USA keine negativen Beschäftigungseffekte bei Tieflohnjobs nachgewiesen werden. Die Untersuchung nützt die Tatsache, dass neben dem nationalen Mindestlohn unterschiedliche Minimalvorschriften auf der Ebene der US-Bundesstaaten existieren. Darauf basierend wurde die Beschäftigungsentwicklung in angrenzenden und somit ähnlichen, aber gleichzeitig durch Bundesstaatsgrenzen getrennten «Counties» (Bezirke) über 15 Jahre untersucht. Die erwähnte Arbeit wird von den Mindestlohnbefürwortern gerne als «Kronzeugin» für ihre Sache zitiert. Allerdings ist es unzulässig, die Resultate einer einzigen Studie zu verallgemeinern. Insbesondere gilt es folgende Punkte zu beachten:
- Wie die Autoren selbst schreiben, können ihre Befunde nicht auf Länder mit viel höherem Minimallohn übertragen werden. Der staatliche Mindestlohn der USA betrug 2012 38 % des Medianlohns. Die Forderung nach mindestens 22 Franken würde den Schweizer Minimallohn hingegen bei 67 % des mittleren Lohnes ansetzen, den zweithöchsten relativen Wert im Vergleich aller OECD-Länder mit Mindestlöhnen. Konkret: Der durchschnittliche Mindestlohn in der amerikanischen Studie betrug tiefe 4,84 US $!
- Die Studie bezieht sich weitgehend auf Stellen in Restaurants und Fast-Food-Ketten, die Resultate können darum nicht unbesehen generalisiert werden.
- Es wurde nur die Anzahl Jobs beobachtet, nicht aber die gearbeiteten Stunden. Es ist gut möglich, dass die Verteuerung der unqualifizierten Arbeit mit reduzierter Anstellung aufgefangen wurde.
Auch Studierende wären Nutzniesser
Mögliche Arbeitsplatzverluste sind das eine, der Mindestlohn hat aber Auswirkungen auf das ganze Qualifikationsgefüge, nicht nur auf diejenigen, die weniger als den Mindestlohn verdienen. An einer gegebenen Arbeitsstelle vermögen nicht alle gleich viel zu leisten – wir sind unterschiedlich produktiv. Eine Lohnuntergrenze gibt den Firmen den Anreiz, auf produktivere Stellenbewerber auszuweichen, denen sie von sich aus mehr zahlen würden als die Lohnuntergrenze fordert. Arbeitnehmer mit einer Produktivität leicht oberhalb dieser Schwelle werden aus Sicht der Arbeitgeber attraktiver. Ihr Lohn wird steigen. Indirekte Nutzniesser eines Mindestlohns von 22 Franken wären darum unter anderem Studierende, die einen Neben- oder Ferienjob suchen. Die schlechter Qualifizierten werden zwar nicht lohnmässig das Nachsehen haben, aber ihre Beschäftigungsaussichten werden schwinden. Dieser fatale Nebeneffekt unterstreicht, dass Mindestlöhne nicht primär denjenigen helfen, für die sie gedacht sind. Übrigens weisen auch Dube, Lester und Reich darauf hin, dass ihre Studie zu dieser Substitution von Geringverdienern durch die nächst besser Qualifizierten keine Aussage macht.
Mindestlöhne könnten den Zuwanderungssog verstärken
Vor dem Hintergrund der Personenfreizügigkeit erhält dieser Aspekt eine besondere Brisanz. Ein Mindestlohn in der vom Gewerkschaftsbund geforderten Höhe von 22 Franken pro Stunde könnte zusätzliche motivierte Arbeitnehmer aus dem Euroraum in die Schweiz ziehen, wo sie in Konkurrenz zu geringer qualifizierten Inländern treten. Kaufkraftbereinigt entspricht ein Monatslohn von 4000 Franken nämlich genau dem italienischen Durchschnittsgehalt und übersteigt den portugiesischen Durchschnittslohn um nicht weniger als 36 %. Der Ruf nach Beschäftigungsgarantien und der Neuauflage des Inländervorrangs würde wohl bald erschallen.