Um es explizit an den Anfang zu stellen: Ich bin nicht gegen Werte, auch nicht gegen Menschenrechte – wie käme ich dazu. Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, dass Werte im gesellschaftlichen und politischen Diskurs seit geraumer Zeit den nicht mehr hinterfragten Status der Allgegenwärtigkeit geniessen. Nicht nur Wahlkampfzeiten sind heute Wertezeiten; auch im politischen Alltag werden Freiheit und Gleichheit, Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit bemüht und beschworen. Parlamentarier und Minister, Kommissare und Staatspräsidenten – alle bleiben sie dabei am liebsten in den Startlöchern ihres guten Willens, derweil die Richtung, in die konkret zu laufen wäre, umstritten und weitestgehend offen bleibt.

Werte als Reflexionsbarrieren

Werte sind bei Politikern beliebt, weil sie höchste Relevanz mit moralischem Gehalt verbinden. Sie dienen der Rückversicherung konkreter Absichten und Entscheidungen im Raum des Unbestrittenen. Werte verkörpern Gesinnung. Sie brauchen nicht als Thesen behauptet, nicht mit Argumenten untermauert zu werden. Ihre Geltung wird vorausgesetzt, sie gelten unbegründet – was sie mitunter zu eigentlichen Reflexionsbarrieren macht. Vor allem aber bleiben Werte abstrakt, unfassbar im Konkreten: wunderbare Vehikel sozialer und politischer Kohäsion insofern, als sich Individuen und Gruppen unterschiedlichster Wahrnehmung und Weltanschauung vom je eigenen Standort auf sie beziehen können. Dass Werte auch in dieser Funktion dienen, ist unbestritten; man denke an die Kultur der Verfassungspräambeln.

Präambeln und Sonntagsreden sind eines, die soziale Wirklichkeit und der politische Alltag ein anderes. Atomkraftwerke für Deutschland? Handel mit China? Panzer für Saudi-Arabien? Ich kenne keinen innenpolitischen und auch keinen aussenpolitischen Konflikt, der über die Anrufung von Werten gelöst worden wäre. Wen wundert‘s. Die politische Arena kennt keine Wertehierarchie – und Werte geben keinerlei Maxime an die Hand, wie Wertkonflikte aufzulösen wären. Ausgerechnet dort bleiben sie stumm, wo sie zu uns reden müssten.

Im Licht konkreter Interessen

Ob Kredite zu sprechen, Allianzen zu schmieden, Interventionen zu beschliessen sind: All dies hat mit Verantwortung zu tun und ist aus abstrakten Werten schlicht nicht abzuleiten, wohl aber aus der Konfiguration konkreter Interessen. Das ist freilich eine Unterscheidung, die in akademischen Kreisen gerne als heuristisch nicht haltbar abgetan wird. Doch Interessen können benannt, sie können angepasst und ausgeglichen werden. Wie aber verhandelt man Werte, wie gleicht man sie aus? Solche Fragen sind weder überholt noch trivial. Wertefixierung kann interessenblind machen, wie die Aussenpolitik der Europäischen Union mit schöner Regelmässigkeit erhellt. Erst wenn wir unterhalb des Firmaments von Werten wissen und erklären, was wir im Einzelnen wollen – dann erst werden wir politisch realitätsfähig, weil einschätzbar und verlässlich als Partner. Und so bringt es auch nicht viel, lange über Werte zu referieren und darüber, was sie bedroht, wenn Interessen als entscheidungsrelevante, weil fassbare Kategorie dabei keinerlei Erwähnung finden.

Dieser Text stammt aus dem Buch «Der Wert der Werte», das bereits in zweiter Auflage vorliegt. Christoph Frei ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität St.Gallen (HSG).