2010 wurde «Austerity» vom englischen Merriam-Webster’s Dictionary zum Wort des Jahres gewählt. Diese Wahl kam nicht unerwartet, klagen doch viele Experten und Beobachter in ganz Europa seit dem Ausbruch der Schuldenkrise über harte Anpassungsmassnahmen und zu wenig Wachstumsstimulierung.
Aber warum ist das so, wieso lechzen die krisengeschüttelten Länder so sehr nach Wachstum? Eine Antwort darauf liefert das sogenannte «Okunsche Gesetz» (Okun’s Law), das auf den amerikanischen Ökonomen Arthur M. Okun zurückgeht. Er hat 1962 erstmals die negative Korrelation zwischen dem realen BIP-Wachstum und der Veränderung der Arbeitslosenquote aufgezeigt. Abbildung 1 zeigt für den OECD-Raum diesen Zusammenhang für die letzten 15 Jahre. Zwar sagt eine Korrelation bekanntlich noch nichts über die Kausalität aus, doch die meisten Ökonomen interpretieren die Relation der beiden Grössen heute dahingehend, dass – als Faustregel – ein Anstieg des realen Bruttoinlandprodukts (BIP) um 3 Prozent zu einer Reduktion der Arbeitslosenquote um einen halben Prozentpunkt führt.
Von Land zu Land unterschiedlich
Eine Reihe von Studien hat diesen Zusammenhang bestätigt – so auch eine erst kürzlich erschienene Analyse des Internationalen Währungsfonds (IMF). Aus diesen Untersuchungen geht allerdings auch hervor, dass die Faustregel nicht für jedes Land zutrifft. Anders gesagt: Das Ausmass der negativen Korrelation ist von Land zu Land unterschiedlich. Erstens muss zuerst eine Schwelle überschritten werden, damit eine Zunahme des BIP mit einer Abnahme der Arbeitslosigkeit einhergeht. Ein Grund dafür ist das Produktivitätswachstum. Weil immer weniger Beschäftigte zur Herstellung der gleichen Gütermenge gebraucht werden, muss die Produktion mindestens mit der gleichen Rate wachsen wie die Produktivität, damit die Arbeitslosenquote konstant bleibt. Der andere Grund ist die Zahl der Arbeitskräfte. Je stärker diese steigt, desto höher muss das BIP-Wachstum sein, damit die Arbeitslosigkeit reduziert wird. Diese beiden Effekte führen dazu, dass das Okunsche Gesetz in Italien schon ab einem Schwellenwert von 1,3% BIP-Wachstum gilt, in Grossbritannien dagegen erst ab 2,3%. Zweitens reagiert die Arbeitslosigkeit von Land zu Land unterschiedlich auf eine Veränderung des Wachstums. Auch hier sind die Differenzen beträchtlich: Die IMF-Studie schätzt, dass ein über den notwendigen Schwellenwert hinausgehendes BIP-Wachstum von einem Prozent in den USA zu einem Rückgang der Arbeitslosenquote von 0,45 Prozentpunkten führt, in Japan hingegen bloss zu einem Rückgang von 0,15 Prozentpunkten. Die Gründe dafür sind in der von Land zu Land unterschiedlichen Höhe der Arbeitslosigkeit und in der Struktur des Arbeitsmarktes zu suchen. Länder mit einer eher hohen Arbeitslosigkeit und einem relativ flexiblen Arbeitsmarkt reagieren stärker auf Wachstum.
Wie Abbildung 2 zeigt, gilt das Gesetz von Okun auch für die Schweiz. Zwischen 1991 und 2011 führte ein 1%-BIP-Wachstum ab einer Schwelle von 1,8% im Durchschnitt zu einer Reduktion der Arbeitslosenquote um 0,2 Prozentpunkte. Die IMF-Studie kommt für einen etwas längeren Zeitraum zu einem ähnlichen Ergebnis. Das Okun‘sche Gesetz trifft somit auch auf die Schweiz zu, allerdings in einem schwächeren Ausmass als in anderen westlichen Ländern. Eine Erklärung dafür dürfte die bereits seit Jahren sehr tiefe Arbeitslosenquote sein.
Krisengeschüttelte Länder brauchen nachhaltiges Wachstum
Während sich die Schweiz seit Jahren nahe an der Vollbeschäftigung bewegt, leiden andere europäische Länder an einer hohen Arbeitslosigkeit. Für sie dürfte das Gesetz von Okun eine viel wichtigere Rolle spielen. Ohne höheres Wachstum wird die Arbeitslosenquote kaum gesenkt werden können, darin sind sich die meisten Ökonomen einig. Die grosse Frage ist, mit welchen Massnahmen dieses Ziel am besten erreicht werden kann, denn zunächst werden die hochverschuldeten Länder um eine Konsolidierung ihrer Staatshaushalte nicht herumkommen, auch wenn sie damit zumindest kurzfristig das Wachstum beeinträchtigen. Sonst würde die Last für künftige Generationen zu schwer, ganz abgesehen davon, dass eine Wachstumspolitik, die nur noch mehr Schulden anhäufte, weder glaubwürdig noch nachhaltig wäre. Allerdings müssen die unumgänglichen Sparmassnahmen mit Augenmass und unter Berücksichtigung der von Land zu Land unterschiedlichen Ausgangslage erfolgen. Und dann braucht es für ein solides Wachstum vor allem strukturelle Reformen, die auf eine Erhöhung des Produktionspotentials und der Investitionen zielen.