Die Standardbiografie, wonach ein Mitarbeiter von der Wiege bis zur Bahre, bzw. von der Lehre bis zur Pensionierung beim gleichen Unternehmen bleibt, ist heute eher Ausnahme als Regel. Die Vorstellung einer Ehe «bis zum Tod des Partners» ist für jedes zweite Ehepaar obsolet. Dennoch bietet das BVG-Gesetz den Versicherten wenige Möglichkeiten, ihre Altersvorsorge nach ihren Bedürfnissen auszurichten. Auch setzen die gültigen Mindestumwandlungssätze eine Kapitalmarktrendite und Lebenserwartung voraus, die nicht mehr der Realität entsprechen. Stiftungsräte stecken dadurch in einem Korsett fest, das eine nachhaltige Finanzierung der Vorsorgewerke gefährdet.

Warten auf Godot

Der Bundesrat will diese Herausforderungen in seiner Reform «Altersvorsorge 2020» anpacken. Bis diese in Kraft tritt, wird es aufgrund Übergangsregelungen (6 Jahre für die Erhöhung des Frauenrentenalters, 4 Jahre für die Senkung des Umwandlungssatzes) 2025 sein. Die Kavallerie von Bern wird, wenn überhaupt, zu spät kommen. Stiftungsräte sind gut beraten, bis dahin den gesetzlichen Spielraum auszunützen, um den Flexibilitätsbedürfnissen der Versicherten und der Vorsorgeeinrichtungen besser gerecht zu werden. Langfristig braucht die Altersvorsorge tiefgreifende Veränderungen.

Flexibilität beim Sparen

In der Schweiz haben Männer eine durchschnittliche Schuhgrösse von 43, Frauen eine von 38. Würde man die Gesamtproduktion von Schuhen auf diese Grössen ausrichten, könnte man massiv die Kosten senken. Nahezu 80% der Bevölkerung könnten jedoch mit diesen Schuhen nicht laufen; sie wären entweder zu klein oder zu gross. Diese absurde Vorstellung entspricht leider der heutigen Organisation der beruflichen Vorsorge. Die Anlagestrategie ist bei den meisten Vorsorgeeinrichtungen für alle Versicherten identisch, unabhängig von ihrer persönlichen Risikofähigkeit oder ihren Präferenzen in Bezug auf ethische Standards.

Mit der 1. BVG-Revision wurden für Pensionskassen, die ausschliesslich Löhne oberhalb von 126’360 Franken versichern, erste Möglichkeiten für individualisierte Anlagestrategien pro Versichertem eröffnet (Art. 1e BVV 2). Viele Stiftungsräte zögern vor solchen Reglementanpassungen, weil sie eine Überforderung ihrer Versicherten und höhere Kosten fürchten. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Wird die Wahl allerdings auf drei bis fünf Anlagestrategien beschränkt, können sowohl Kosten als auch Beratungskomplexität deutlich reduziert werden. Mit wenigen Fragen kann das Risikoprofil des Versicherten ermittelt und eine passende Strategie empfohlen werden. Den zusätzlichen Kosten müssen auch Einsparungen gegenübergestellt werden. Da der Versicherte die Risiken, aber auch die Chancen von Marktschwankungen selbst trägt, muss er weder Sanierungsbeiträge finanzieren noch Wertschwankungsreserven aufbauen.

Realistische Umwandlungssätze

Der Umwandlungssatz hängt von der erwarteten Anlagerendite und der Lebenserwartung ab. Für erstere hat die Schweizer Kammer der Pensionskassenexperten in einer Richtlinie (FRP 4) maximale Werte von 3,5 % (2012) und 3,0% (2013) festgelegt. Bei der zweiten Grösse wird zwischen einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung (Generationentafel) und gleichbleibender Lebenserwartung (Periodentafel) unterschieden.

Langfristig sollte diese Wahlmöglichkeit nicht nur für Löhne oberhalb von 126’360 Franken, sondern für das gesamte Überobligatorium angeboten werden. Damit könnten potenziell 40%, statt heute nur 12% der Bevölkerung, von dieser Flexibilisierungsmöglichkeit profitieren. Auch wäre es denkbar, dem Versicherten die Wahl des Leistungserbringers für den Sparprozess zu überlassen. Die Sozialpartner würden nach wie vor die Höhe der Sparbeiträge (Altersgutschriften, versicherten Lohn) festlegen; die Versicherten könnten jedoch selbst bestimmen, wer sie wie verwaltet.

Flexibilität beim Rentenalter

Das Gesetz ermöglicht Pensionskassen, ein reglementarisches Rentenalter ab 58 zu definieren (die Reform des Bundesrats sieht eine Erhöhung auf 62 Jahre vor). Wichtig ist dabei, dass die Altersrente bei vorzeitiger Pensionierung versicherungsmathematisch bestimmt wird. Sonst müssen diese goldenen Brücken durch Quersubventionen von Jung zu Alt finanziert werden.

Langfristig machen veränderte Erwerbsbiographien, die höhere Lebenserwartung bei guter Gesundheit und die absehbaren Engpässe auf dem Arbeitsmarkt das Konzept eines gesetzlich fixierten Rentenalters obsolet. Schweden hat daraus die Konsequenzen gezogen und das starre ordentliche Rentenalter abgeschafft. Dabei wurde gesetzlich nur eine Untergrenze für die Frühpensionierung vorgegeben. Je später die Pensionierung erfolgt, desto höher fällt die Rente aus. Das System sieht auch Teilrenten vor, um eine graduelle Reduktion des Arbeitspensums zu ermöglichen. Jeder kann somit sein Rentenalter gemäss eigener Präferenzen und Finanzsituation bestimmen.

Flexibilität beim Umwandlungssatz

Der geltende Umwandlungssatz von 6,8% basiert auf einer Lebenserwartung, wie sie Ende der 1980er Jahre bemessen wurde und setzt eine Marktrendite von über 4% pro Jahr voraus. Unter Verwendung aktueller Sterbetafeln und realistischer, tieferer technischer Zinsen sollte der Umwandlungssatz eher unter 6,0% liegen (Abbildung). Umhüllende Kassen, die Leistungen über das BVG-Obligatorium anbieten, können dank dem Anrechnungsprinzip tiefere Umwandlungssätze anwenden. Gemäss Swisscanto lag 2013 der Schweizer Durchschnittswert bei 6,5%: Tiefer als die gesetzlichen 6,8%, doch deutlich höher als 6,0%. Der Trend zu tieferen Umwandlungssätzen wird sich fortsetzen. Diese Anpassungen brauchen jedoch lange Vorlaufzeiten und können schwer rückgängig gemacht werden.

Umhüllende Kassen können innerhalb des bestehenden gesetzlichen Rahmens auf elegante Weise Flexibilität gewinnen, indem sie die Altersrente in eine fixe und eine variable Komponente zerlegen. Die fixe Komponente deckt die minimalen Anforderungen des BVG ab; die variable steigt oder sinkt je nach der über mehrere Jahre geglätteten Marktperformance. Die Pensionskasse von PwC Schweiz verwendet seit 2005 ein solches Modell. Die gleichzeitige Einführung einer variablen Rente und eines tieferen Umwandlungssatzes kann die Debatte um den «richtigen» Umwandlungssatz in einem Stiftungsrat entschärfen. Bei günstiger Entwicklung der Marktrendite würde die variable Komponente die Senkung des Umwandlungssatzes spürbar abfedern. Andernfalls wären die systemwidrigen Umverteilungen zumindest bis zum nächsten Anstieg reduziert.

Man kann die Veränderungen unserer Gesellschaft begrüssen oder ablehnen. Fakt ist: Das gültige BVG bildet eine Gesellschaft ab, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Tiefgreifende gesetzliche Veränderungen sind nötig, doch kurzfristig kaum zu erwarten. Allerdings beginnt jede grosse Reise mit einem ersten Schritt. Nicht alle vorgeschlagenen Flexibilisierungen müssen sofort implementiert werden. Es obliegt dem Stiftungsrat, zu prüfen, welche reglementarischen Anpassungen am besten den veränderten Umständen entsprechen, und danach zu handeln.

Dieser Artikel erschien im Quartalsbericht 4.2013 der Avadis Anlagestiftung.
Mit freundlicher Genehmigung der Avadis Anlagestiftung.